Die verlorene Mitte

Teilen
Merken
 © ThePioneer

Guten Morgen,

der Wahlkampfnebel, der von Sachsen über Brandenburg nach Berlin geweht war, hat sich nach den Abstimmungen am Sonntag verzogen. So gibt der beginnende Herbst den Blick frei auf die drei großen bundespolitischen Verlierer der Sommersaison:

 © imago

►Die CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer hat die bürgerliche Mitte nicht überzeugen und ihre eigene Partei nicht einen können. In den Wahlkämpfen der vergangenen Monate ging kein Wärmestrom von ihr aus. Die Union wird von Flügelkämpfen erschüttert, die sich spätestens dann machtpolitisch materialisieren, wenn im Bund eine neue Regierungskoalition gebildet werden muss. Über die strategische Frage, wer ersetzt eigentlich den Dauerkoalitionspartner SPD, herrscht kein Konsens.

Christian Lindner © dpa

►Die FDP von Parteichef Christian Lindner kann die bei der Bundestagswahl im September 2017 erreichte Flughöhe nicht halten. Die seither eingefahrenen Ergebnisse erinnern eher an einen Sinkflug. Das ruft interne Kritiker, aber auch wohlmeinende Querdenker auf den Plan wie Thomas Sattelberger, den ehemaligen Personalvorstand der Deutschen Telekom. Auf Facebook postete der FDP-Bundestagsabgeordnete am Sonntagabend: „Wir sind eine brave bürgerliche Partei geworden. Noch mehr vom gleichen wird uns nicht helfen.“

 © imago

►Die SPD hat sich nach dem Rücktritt von Parteichefin Andrea Nahles sehenden Auges in ein innerparteiliches Machtvakuum begeben, das in den kommenden Wochen auf 23 Regionalkonferenzen zu besichtigen sein wird. Acht Paare und ein Einzelkandidat, die nun um die Nachfolge von Willy Brandt, Helmut Schmidt und Gerhard Schröder rangeln, verzwergen sich und die Partei. Das Auswahlverfahren mit all seinen Regularien ist nicht dazu angetan, Autoritäten hervorzubringen und Respekt zu erzeugen. Der Satiriker Jan Böhmermann vergleicht die SPD mit dem brennenden Amazonas-Regenwald: „Wir müssen die rote Lunge Deutschlands retten.“

Eine Infografik mit dem Titel: Die Kernschmelze

Die "alte Mitte"... Ergebnis der Bundestagswahl 1972, Zweitstimmen in Prozent ...schrumpft... Ergebnis der Bundestagswahl 2005, Zweitstimmen in Prozent ...schrumpft... Sonntagsfrage Bundestagswahl, in Prozent

Fazit: Die Mitte des Landes (siehe Grafiken) schrumpft dahin wie die Eisschollen in der Arktis. Dieser Vorgang ist kein Naturereignis, sondern menschengemacht. Das wiederum gibt Anlass zur Zuversicht: Die politische Trendumkehr beginnt, wenn die Bataillone der Aufmüpfigen ihre Häuser verlassen, um die stehenden Heere der Opportunisten zu vertreiben.

Womit wir bei Thomas Sattelberger wären: Der Ex-Personalchef der Deutschen Telekom und heutige FDP-Bundestagsabgeordnete ist ein Mann ohne Furcht und Tadel. Ihm sind die politische Verengung und die geistige Verarmung seiner Partei aufgefallen. Im Gespräch für den Morning Briefing Podcast legt der 70-Jährige eine Analyse vor, die viele Liberale, womöglich auch der Vorsitzende Christian Lindner, als unbequem empfinden werden.

Seine Kernaussage:

Wir brauchen robuste und klare Zukunftskonzepte. Und da sind wir ein bisschen schmalbrüstig geworden.

Konkret wünscht sich Sattelberger eine Nachjustierung in der Migrationspolitik:

Wir wissen alle, dass das Thema der Migration nicht gelöst ist. Wir haben nach wie vor keine sicheren EU-Außengrenzen.

Auf das Zeitalter der Digitalisierung müssten die Liberalen mit neuen Impulsen reagieren:

Es geht um die Frage, wie die Digitalisierung Millionen Jobs verändert. Wir wissen alle, dass wir nicht die geringste nationale Weiterbildungsinfrastruktur haben, um mit diesem Thema umzugehen.

Auch die Interessenvertretung der FDP-Stammklientel müsse seiner Ansicht nach neu definiert werden:

Die ganze Frage der Selbstständigen und der Freelancer, die mehr und mehr aufgerieben werden, ist unbeantwortet. Im Grunde wird eine ganze Profession gezwungen, entweder in die Zeitarbeit zu gehen oder in Konzerne zurückzukehren. Dabei wissen wir, dass Freelancer das Plankton für die digitale Transformation sind.

Auf die Frage, weshalb die FDP nach ihrem Erfolg, dem Wiedereinzug in den Bundestag, nun an Rückhalt zu verlieren scheint, zieht der Manager Sattelberger einen Wirtschaftsvergleich:

Meistens glauben die Menschen, die Sanierung sei abgeschlossen, wenn man wieder schwarze Zahlen schreibt. Persönlich glaube ich, dass da erst die Hälfte des Weges erreicht ist.

Die Glaubenssätze von gestern, sagt Sattelberger, hätten ihre Gültigkeit eingebüßt. Er spricht offen vom Marktversagen, was in der FDP als Tabubruch gilt. Er fragt:

Brauchen wir nicht insbesondere in den Phasen, wo das Marktversagen offensichtlich ist, deutlich mehr staatliche Intervention?

Zweifelt Sattelberger an seinem Parteivorsitzenden? Nein, sagt er, und macht glaubhaft, dass er nicht Führungsfiguren, sondern Denkblockaden beseitigen will:

Ich hoffe, dass er diesen Beitrag als einen Richtungsbeitrag versteht und wir in der Fraktion wirklich intensiv über die unterschiedlichen Ausrichtungen diskutieren werden. Denn nach diesen Wahlen in Brandenburg und in Sachsen, da müssen wir uns schon ernsthaft die Frage stellen: Ist auch der gesamte Kurs richtig?

Fazit: Die interne FDP-Fraktionsklausur, die in der zweiten Wochenhälfte stattfinden soll, dürfte munter werden. Die Geschlossenheit des Jahres 2017 ist dahin. Das muss für den Liberalismus kein Nachteil sein.

Die CDU arbeitet an einer neuen Klimapolitik, die noch in diesem Herbst zu Gesetzesinitiativen führen soll. Heute startet die Partei ein „Werkstattgespräch“ mit dem Ziel, die „grüne Null“ zu erreichen. Der Bundestagsabgeordnete Thomas Heilmann als Teil der parteiinternen Klimakommission erklärt im Morning Briefing Podcast , worum es geht – und wie die Union mit der CO2-Steuer umzugehen gedenkt.

Eine neue Energiesteuer, die sich zu den bisherigen dazu addiert, hält er für ausgeschlossen:

Wir müssen die Verbrauchssteuern anders berechnen. Die Kfz-Steuer wird heute nach Hubraum berechnet, aber die darf man natürlich auch nach CO2-Ausstoß berechnen.

Aber es geht nicht nur um eine CO2-Bepreisung:

Es gibt natürlich Felder, wo wir Innovationen überhaupt erst mal starten müssen. So wie die Amerikaner Geburtshelfer des Internet waren, so wollen wir bei synthetischem Sprit oder bei Wasserstoffkraftantrieben Innovationen fördern.

Kann Deutschland überhaupt etwas ausrichten, wenn die Chinesen Kohlekraftwerke bauen, die Amerikaner aus dem Klimaabkommen aussteigen und Brasilien die Rodung des Regenwaldes fördert?

Wir können nicht die anderen überzeugen, indem wir sagen: Geht ihr mal voran. Wir müssen in der Koalition der Willigen weltweit anfangen. Und dann werden wir große Fortschritte erreichen.

Am 16. September will die Union ihre Ziele festzurren, um anschließend mit der SPD zu verhandeln. Da für viele der Klimaschutzinitiativen der Bundesrat gebraucht wird, sind auch Gespräche mit Grünen und FDP geboten. Wir werden in diesem Herbst keine neue Regierungsbildung in Berlin erleben, wohl aber das Vorspiel dazu.

 © imago

Morgen ist es so weit: Mit ThyssenKrupp muss der Gemeinschaftskonzern, dessen vorige Einzelteile Krupp, Hoesch und Thyssen die deutsche Vor- und Nachkriegsgeschichte geprägt haben, den Dax verlassen. Das Unternehmen, das innerhalb eines Jahres seinen Aktienkurs fast halbiert hat, ist heute nur noch ein Schatten seiner selbst.

Des einen Leid, ist des anderen Freud: Es ist gut denkbar, dass morgen Abend der bayerische Triebwerkshersteller MTU Aero Engines für den Stahlkonzern nachrücken wird. „Ein solcher Schritt würde unsere Sichtbarkeit deutlich erhöhen, insbesondere international“, sagte Konzernchef Reiner Winkler.

 © imago

Doch Anleger, die mit der neuen Zeit gehen wollen, sollten wachsam sein: Von den acht Unternehmen, die seit der Finanzkrise den Sprung in die Liga der 30 größten börsennotierten deutschen Unternehmen schafften, hat die Mehrheit ihren Anlegern nach dem Aufstieg Verluste beschert.

Chris­ti­an Sewing macht Ernst mit sei­nem Ver­spre­chen, ei­nen nicht unerheblichen Teil sei­nes Ge­halts in Ak­ti­en der Deutschen Bank zu inves­tie­ren. So will der Vor­stands­chef künftig je­den Mo­nat 15 Prozent sei­ner Net­to-Vor­stands­ver­gü­tung in Ak­ti­en des Geldinstituts anlegen. Den entsprechenden Dauerauftrag hat er jetzt eingerichtet.

Bei voll­stän­di­ger Er­fül­lung sei­nes Vor­stands­ver­trags, der bis 2022 läuft, wür­de sich das In­vest­ment auf rund 850.000 Eu­ro belaufen. Respekt! Oder wie man im Rheinland sagt: Das ist manch einem sein Ganzes.

Ich wünsche Ihnen einen erfolgreichen Start in den neuen Tag. Es grüßt Sie auf das Herzlichste Ihr

Pioneer Editor, Herausgeber The Pioneer
  1. , Pioneer Editor, Herausgeber The Pioneer

Abonnieren

Abonnieren Sie den Newsletter The Pioneer Briefing