Die Zukunft der Autoindustrie

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 © ThePioneer

Guten Morgen,

die Existenz der kleinen Firmen und der großen Konzerne stellen wir uns bisher als Unternehmenslandschaft vor. Auf dem Bergmassiv befinden sich demnach die Weltkonzerne, im Tal und in den Auen die Handwerker und Selbstständigen. Doch die Starrheit, die das Bild von der Unternehmenslandschaft vermittelt, passt nicht mehr. Die deutsche Wirtschaft müssen wir uns vielmehr als Wanderdüne vorstellen, umgeben vom Treibsand der Veränderung. Vor allem die Automobilindustrie weiß, was hier gemeint ist:

► Der Internationalen Automobilausstellung (IAA) gehen die Aussteller aus: Mehr als 22 Konzerne, darunter Nissan, Renault, Mitsubishi und die GM-Marken Chevrolet und Cadillac, verweigerten sich in diesem Jahr.

► Der Verband der Automobilindustrie steht kopflos da: Dem einst mächtigen Lobbyverband fehlt nach der Rücktrittsankündigung seines Präsidenten Bernhard Mattes eine Führungsfigur.

Eine Infografik mit dem Titel: Immer mehr Autos auf der Straße

Anzahl der gemeldeten PKW in Deutschland, in Millionen

► Die neuesten Zahlen zur Pkw-Dichte in Deutschland – 47,1 Millionen Pkw sind gemeldet, ein Anstieg von 14 Prozent in den vergangenen zehn Jahren (siehe Grafik) – gelten vielen Menschen nicht mehr als Erfolgsgeschichte, sondern als Schadensmeldung.

► Ausgerechnet die derzeit so beliebten großen Autos sind das neue Feindbild der Politiker. Die Zahl der Neuzulassungen von SUVs und Geländewagen hat sich in Deutschland seit dem Jahr 2013 mehr als verdoppelt. Diese „Vorliebe für Straßenpanzer gleicht dem US-Faible für Waffen“, sagt Ralf Stegner, Anwärter auf den SPD-Vorsitz.

Elektrobetriebene Vehikel, die man getrost als die neuen Lieblingsfahrzeuge der Politiker bezeichnen darf, bleiben die Ausnahme: Nur in homöopathischen Dosen sind sie auf den Straßen anzutreffen. Ihr Marktanteil: 2,6 Prozent bei den Neuwagen, inklusive Plug-in-Hybriden.

Eine Infografik mit dem Titel: Die Zukunft fährt autonom

Prognostizierte Anzahl von PKW mit Automatisierungsfunktion in Deutschland

Anderswo beginnt sich der Nebel der Veränderung zu lichten – und eine neue Normalität wird sichtbar: in China, in Norwegen und im Silicon Valley sowieso. Auch Hersteller wie Daimler, BMW und VW arbeiten daran, sich vom Autobauer zum Mobilitätsanbieter zu transformieren. Doch der Ballast reist mit.

Zukunftsforscher Michael Carl, Gründer des Carl Institute for Human Future, sagt eine Zukunft voraus, die mit der ökonomischen Realität in Deutschland derzeit kaum etwas gemein hat:

► Wir werden das Ende des selbstgesteuerten Automobils erleben. Er sagt: Gott sei Dank.

► Bald schon werden wir auf den möglichst schnellen Transport keinen Wert mehr legen, weil die Reisezeit sinnvoll genutzt werden kann – dank TV-Schirm, Schlafkabine und Konferenztechnik.

► Wir dürften für Mobilität – erst recht auf der kurzen Strecke – nicht mehr zahlen, weil Digitalkonzerne mit Werbung und unseren Datensätzen abgegolten werden.

Im Morning Briefing Podcast habe ich mit Carl über seine Vision der Zukunft gesprochen, die für Hunderttausende deutsche Automobilarbeiter gravierende Folgen haben könnte. Die Vorstandschefs, glaubt er, lassen sich durch die derzeit noch florierenden Geschäfte blenden:

Der momentane Erfolg ist hochtrügerisch, weil man denkt und denken muss, dass man das Richtige tut.

Dieselbe Situation hat Nokia nicht geholfen, als das iPhone kam. Und sie hat Kodak nichts gebracht, als die Digitalkameras ihren Siegeszug begannen.

Nicht nur der Antriebsstrang der Automobile werde sich verändern, sondern deren Geschäftsmodell. Der Verkauf von Autos an Privatpersonen werde womöglich zum Erliegen kommen oder sich zum Nischenprodukt entwickeln:

Tesla prognostiziert in sehr naher Zukunft Mobilitätskosten von unter zehn Cent pro Kilometer. Wir kommen damit in einen Bereich, in dem das autonome Fahrzeug im Grunde günstiger ist als Taxifahren. Und wir kommen auch in den Bereich, in dem ein Unternehmen wie Google überhaupt keine Schwierigkeiten hat, zu sagen: So eine Fahrt von zehn Kilometern, die refinanziere ich durch Werbung.

Auch der heute vom Staat organisierte öffentliche Personennahverkehr werde unter Druck geraten:

Das wird unsere Vorstellung davon, wie öffentlicher Verkehr in Städten organisiert ist, gründlich durcheinanderwirbeln.

Fazit: Die automobile Zukunft beginnt wie jede Zukunft – und zwar im Kopf. Vieles ist für die deutsche Autoindustrie denkbar, nur nicht die Verlängerung des Status Quo.

Olaf Scholz © dpa

Olaf Scholz sagt nie etwas Falsches – und falls doch, dann in einem angenehmen Ton. Der SPD-Finanzminister und Vizekanzler ist wohltemperiert, was angesichts der Überhitzungen im politischen Meinungsklima schon als Kompliment gelten darf.

Er denkt und spricht, und zwar in dieser Reihenfolge.

Wenn man ihm eine Stunde lang zuhört, was ich zusammen mit 200 Menschen der Wirtschaft gestern Nachmittag beim zweiten Berliner Zukunftsdialog des SPD-nahen Managers Harald Christ getan habe, dann weiß man, warum die Welt ist, wie sie ist. Keiner kann die Zwänge der Gegenwart, von den hohen Steuern bis zum Klimawandel, mit einer derart geschmeidigen Ernsthaftigkeit erläutern, wie Scholz.

Man könnte meinen, eine widrige Wirklichkeit hat sich den Juristen Scholz als Anwalt verpflichtet, auf dass er sie kompetent nach allen Regeln der Kunst verteidigt. Immer hat er noch einen Sachzwang, den er in den Zeugenstand ruft.

Nur eine Frage blieb auch gestern wieder unbeantwortet: Was eigentlich unterscheidet den Vizekanzler von seiner Chefin, was den Sozial- von der Christdemokratin? Die Kanzlerin sagt: Wir schaffen das. Er: Wir können das. Den feinen Unterschied hält Scholz für eine subversive Art der Opposition.

In Wahrheit hat Merkel noch nie einen loyaleren Stellvertreter gehabt als Scholz. Er interpretiert und beschützt sie. Er ist Merkel ohne Raute. Auf seiner Stirn steht nicht Revolte und auch nicht ihr kleiner Bruder, der Aufbruch, sondern in Großbuchstaben: Weiter so. Weiter so, in Rot.

 © dpa

Die EU macht den Weg frei für eine Neuordnung am deutschen Strommarkt: Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager genehmigte unter leichten Auflagen die Zerschlagung des RWE-Ökostromkonzerns Innogy, der zukünftig unter Eon und RWE aufgeteilt wird. Eon soll die Netze und das Endkundengeschäft von Innogy erhalten, an RWE gehen die erneuerbaren Energien von Innogy wie auch Eon.

RWE wird damit zum Produzenten und Großhändler von Strom. Eon will sich nach Abgabe seiner Kraftwerke auf den Transport und Verkauf von Strom, Gas und Energiedienstleistungen an Endkunden konzentrieren. Im Wettbewerb grenzen sich die beiden größten deutschen Energiekonzerne damit voneinander ab, rücken geschäftlich aber enger zusammen: Zukünftig wird RWE 16,7 Prozent am einstigen Rivalen halten, Unternehmenschef Rolf Martin Schmitz rückt in den Eon-Aufsichtsrat ein. Die Energiekonzerne kontrollieren sich damit selbst. Alles gibt es heutzutage in einer Light-Version, warum nicht auch die Marktwirtschaft.

„Friendly fire“ für Christian Lindner: Jetzt wird der FPD-Chef auch aus der deutschen Wirtschaft attackiert – zum Beispiel von Siemens-Vorstandschef Joe Kaeser. Dieser reagierte, nachdem Lindner den Konzernchef im Bundestag für seine zurückhaltenden Kommentare zu China kritisiert hatte, ebenfalls öffentlich:

Verantwortliches Wirtschaften sucht immer Lösungen und verweigert sich nicht, so wie Herr Lindner.

Mit seiner Unzufriedenheit über Lindner ist Kaeser nicht allein. Schützenhilfe bekam er gestern vom Chefredakteur des Online-Wirtschaftsmagazins „The Globalist“, Stephan-Götz Richter, ein liberaler Geist der mittleren Generation. Sein Gastbeitrag im „Handelsblatt“ glich einer Generalabrechnung. Er schreibt über Lindner:

Dass er seine Partei im Herbst 2017 wieder in den Bundestag zurückführte, ist Lindners bleibender persönlicher Verdienst. Das heißt im Umkehrschluss aber keineswegs, dass er auch ein guter Politiker ist. Daran bestehen sogar erhebliche Zweifel.

Mit dem Rückzieher aus den Jamaika-Verhandlungen im Jahr 2017 habe Lindner sich und seiner Partei erheblichen Schaden zugefügt:

Bis heute bleibt die passendste Erklärungsvariante, dass Lindner nicht nur in der sprichwörtlichen Angst des Tormanns beim Elfmeter gefangen ist, sondern im entscheidenden Moment auch zur Panik neigt.

Das Verhalten des Parteichefs komme den politischen Gegenspielern zugute:

Schlimmer noch wiegt, dass Lindner mit seinem Schlingerkurs dafür verantwortlich ist, dass die Grünen auch im liberalen Lager – siehe die Wählerwanderung bei der Europawahl – zunehmend als die wesentliche Partei für die Modernisierung der Wirtschaft und der Gesellschaft Deutschlands angesehen werden.

Lindner müsse sich, so der Kritiker, wieder auf die inhaltliche Substanz des Liberalismus besinnen:

Überhaupt scheint der FDP-Vorsitzende geneigt, zu allem und jedem Thema seinen Twitter-Senf dazugeben zu müssen. Das erscheint nicht nur sehr impulsiv, sondern auch wenig strategisch. Das Profil der FDP wird so gewiss nicht gestärkt.

Wegen seines mangelnden politischen Erfolgs verlegt er sich bei seinen Auftritten immer häufiger auf das Beifall heischende Abfeuern rhetorischer Slapsticks.

Fazit: Die politische Karriere des Christian Lindner befindet sich in einer schwierigen Phase. Er sollte die Kritik aus den Reihen der Wirtschaft, die in seiner Fraktion durchaus ihr Echo findet, als das empfinden, was sie ist: eine Hilfestellung, die auch dann eine Hilfestellung bleibt, wenn sie unerwünscht ist. Die Amerikaner nennen diese Art der Zwangszuwendung „tough love“.

Ich wünsche Ihnen einen gut gelaunten Start in diesen neuen Tag. Herzlichst grüßt Sie Ihr

Pioneer Editor, Herausgeber The Pioneer
  1. , Pioneer Editor, Herausgeber The Pioneer

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