Selbstfindung als Selbstzerstörung?

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Guten Morgen,

der wichtigste Unterschied zwischen der „Muppet-Show“ und dem SPD-Kandidatenkarussell ist der Beliebtheitsfaktor. Die Auftritte von Kermit, Miss Piggy, Gonzo und Fozzie Bär waren ein internationaler TV-Schlager. Die Kandidaten-Tournee der SPD, die gestern mit acht Bewerberduos und einem Einzelbewerber in Saarbrücken begann, ist schon daheim kein Straßenfeger. Zur Premiere schalteten nur einige Tausend Bürger den SPD-Livestream ein.

Olaf Scholz auf dem Weg nach Rotterdam © dpa

Ansonsten ähnelten sich die Settings. Die unterschiedlichen Charaktere hatten im Stile eines Varietés ihren Auftritt. Olaf Scholz trat als besorgter Staatsmann auf, Gesine Schwan und Ralf Stegner (Foto unten) versuchten sich als Motivationstrainer, Karl Lauterbach gab den linken Prediger, Boris Pistorius schlüpfte in die Rolle des gütigen Zuhörers, seine Partnerin Petra Köpping gab sich überzeugend als Nachfolgerin der einstigen SPD-Sozialikone Regine Hildebrandt.

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Überhaupt: Es waren nicht die Einzelauftritte, die verstörten. Die zeugten durchaus von Leidenschaft und Fachkompetenz. Es war das Gesamtensemble, das den Eindruck einer real existierenden Entscheidungsschwäche von Deutschlands ältester Partei symbolisierte. Getreu dem Motto: Alles ist heutzutage transparent, warum nicht auch das Führungsvakuum der SPD.

Der Sozialdemokrat Wolfgang Nowak, einst Gerhard Schröders Abteilungsleiter für Strategie im Kanzleramt, flüchtete sich in Zynismus:

Die Selbstfindung der SPD wird als Selbstzerstörung organisiert.

Anderer Kontinent, ähnlicher Befund: Auch der Vorwahlkampf der US-Demokraten entwickelt Züge der vorsätzlichen Selbstzerfleischung. Alle Bewerber jagen nicht den republikanischen Präsidenten Donald Trump – sondern den eigenen „Frontrunner“ Joe Biden.

Joe Biden © dpa

Für seine Rivalen ist das objektiv gesehen die einzige Chance, sich die Nominierung zu sichern. Dabei allerdings wird der ehemalige Vizepräsident in seiner Integrität schwer beschädigt. Kamala Harris, farbige Senatorin aus Kalifornien, wirft ihm unterschwellig Rassismus vor. Senator Bernie Sanders wiederum attackierte Biden für seine verteidigungspolitischen Entscheidungen:

Joe stimmte für den Irak-Krieg, der ein totales Desaster war. Ich dagegen führte die Opposition an.

Und Bill de Blasio, Bürgermeister von New York, versuchte Biden die Menschlichkeit abzusprechen – mit zwei kunstvoll gedrechselten rhetorischen Fragen zum heiß diskutierten Flüchtlingsthema.

Hast du gesagt, dass Abschiebungen eine gute Idee waren? Oder bist du zum Präsidenten gegangen und hast protestiert: ,Das ist ein Fehler; wir sollten es nicht tun?`

Eine Infografik mit dem Titel: Demokraten: Die Selbstbeschäftigung

Umfragewerte der demokratischen Präsidentschaftskandidaten-Bewerber Joe Biden und Kamala Harris

Das Ergebnis dieser Dauerattacken erweist sich für Trump als glückliche Fügung. Die Umfragewerte seines denkbaren Gegenkandidaten Biden sackten unmittelbar nach den beiden Fernsehdebatten mit Harris ab und haben sich danach nie mehr vollständig erholt. Die Frau aus Kalifornien konnte von dem ersten Angriff kurzfristig profitieren, bevor auch ihre Umfragewerte sanken (siehe Grafik).

Fazit: Der offene innerparteiliche Schlagabtausch nutzt dem Amtsinhaber. Wenn es in der Politik mit rechten Dingen zuginge, müsste das Konrad-Adenauer-Haus die Kosten für den SPD-Vorwahlkampf übernehmen – und Trump mindestens eine siebenstellige Wahlkampfspende an die Demokraten leisten.

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Der Brexit-Wahnsinn geht in die nächste Runde. Das britische Parlament möchte sich dem Kamikaze-Kurs von Regierungschef Boris Johnson nicht anschließen. Das gesamte Tohuwabohu bleibt rational kaum nachvollziehbar. Wenn es denn eine plausible Entwicklung für die Ereignisse gibt, dann hat sie der Historiker David Runciman von der Cambridge-Universität festgehalten:

Der Brexit passierte, weil die Bösen die Blöden belogen haben.

 © dpa

Bundeskanzlerin Angela Merkel tritt heute eine schwierige Reise an – für drei Tage macht sich die Regierungschefin mit einer Wirtschaftsdelegation auf den Weg nach China. Dort drohen der deutschen Industrie, die Geschäfte wegzubrechen. Der Handelsstreit mit den USA drückt die Stimmung zusätzlich.

Eine Infografik mit dem Titel: Handelsstreit: Industrie hyperventiliert

Einkaufsmanager-Indizes (PMI) ausgewählter Länder, in Punkten

Was die Sache kompliziert macht: Die Reise ist mit vielen Hoffnungen verknüpft – nicht nur aus der Wirtschaft. Eine Gruppe um den Studenten-Aktivisten Joshua Wong, der zum Gesicht der Demonstrationen in Hongkong geworden ist, bittet in einem offenen Brief um ein Treffen mit Merkel. Darin heißt es:

Wir appellieren an Sie als Bundeskanzlerin Deutschlands, eines Landes, das sich für Meinungsfreiheit und Menschenrechte einsetzt. Und wir hoffen, dass Sie Ihre Besorgnis über unsere katastrophale Situation zum Ausdruck bringen und unsere Forderungen während Ihres China-Aufenthaltes an die chinesische Regierung herantragen werden.

Die Verfasser appellieren ganz persönlich an die ehemalige DDR-Bürgerin Merkel:

Frau Bundeskanzlerin Merkel, Sie sind in der DDR aufgewachsen. Sie haben Erfahrungen aus erster Hand über den Schrecken einer diktatorischen Regierung gemacht.

Das Schreiben hat das Kanzleramt erreicht, wie der Regierungssprecher mitteilte. Die weitere Kommentierung blieb schmallippig: Am Reiseplan, der kein Treffen mit den Demonstranten vorsieht, habe sich nichts geändert. Oder anders ausgedrückt: Geschäfte zuerst, Menschenrechte später.

Der Erfolg der Jahre 2017 und 2018 – die Dax-Konzerne erwirtschafteten so viel Gewinne wie noch nie – scheint die Weitsicht in den Vorstandsetagen getrübt zu haben. Beschwingt von 86,9 Milliarden Euro Nettogewinn in 2018, starteten sie mit Jahresprognosen in das Jahr 2019, die sich mittlerweile in vielen Fällen als irreal erweisen.

Eine Infografik mit dem Titel: Enttäuschte Hoffnungen

Anzahl der Umsatz- und Gewinn-Warnungen der Unternehmen im Prime Standard

Rückblickend erhärtet sich ein böser Verdacht: Womöglich wurden die Anleger, aber vielleicht auch die Aufsichtsräte dieser Firmen, mit schöngefärbten Prognosen bewusst in die Irre geführt. Zielsicher trieb man den eigenen Aktienkurs nach oben, wissend, dass man schon bei leichter konjunktureller Abkühlung nicht liefern kann. Nicht wenige Firmenchefs haben sich im weiten Niemandsland zwischen Wunschdenken und Wirklichkeit verlaufen.

Aus der Reihe der 30-Dax-Unternehmen wurden insgesamt sieben Mal im ersten Halbjahr 2019 Gewinn- oder Umsatzprognosen kassiert, darunter bei BMW, ThyssenKrupp und BASF. Bei Daimler musste Vorstandschef Ola Källenius nach seinem Amtsantritt die Prognosen des Vorgängers Dieter Zetsche gleich zwei Mal korrigieren.

Betrachtet man eine erweiterte Gruppe börsennotierter Unternehmen, zeigt sich ein dramatisches Bild. Das enthüllt eine Studie der Unternehmensberatung EY:

► Von den 308 im Index Prime Standard der deutschen Börse gelisteten Firmen gab es im ersten Halbjahr schon 54 Gewinn- oder Umsatzwarnungen.

►Das sind 38 Prozent mehr als im ersten Halbjahr 2018 und so viele wie seit 2009 nicht mehr. Im Schnitt haben die Unternehmen ihre Gewinnprognosen (EBIT) um mehr als ein Drittel (33 Prozent) nach unten korrigiert.

►Je größer der Konzern, desto eher scheinen die CEOs ihre Aktionäre mit rosigen Zahlen beeindrucken zu wollen, die unter den denkbar günstigsten Annahmen getroffen wurden: Denn 45 der 54 Warnungen gehen auf das Konto von Firmen, die mehr als eine Milliarde Euro Umsatz erwirtschaften.

Eine Infografik mit dem Titel: Von der Konjunktur überrascht

Gründe für Gewinn- und Umsatzwarnungen im 1. Halbjahr 2019

Als wichtigsten Grund dafür, dass sie die Erwartungen an ihre Geschäfte dämpfen, geben die Unternehmen die Abkühlung der Konjunktur an (siehe Grafik), die allerdings keineswegs überraschend kam, sondern von allen Wirtschaftsinstituten prognostiziert worden war. Ganz erkennbar hat man vielerorts die Umsatz- und Gewinnprognosen nicht auf der Basis einer realistischen Risikoabwägung getroffen, sondern als Teil des Firmenmarketings begriffen.

Auch das „CEO Profiling“, die aus den USA stammende Mode, dem Vorstandschef ein markantes Profil zu verpassen, mag bei der Schönfärberei eine Rolle gespielt haben. Auf Hauptversammlungen, Investorenkonferenzen und Road Shows werden schließlich ambitionierte Ziele erwartet. Die Versuchung ist groß, dem Affen Zucker zu geben.

Im Rückblick muss man klar feststellen: Private Anleger wurden getäuscht, professionelle Fondsmanager in Sicherheit gewogen, die Belegschaften ruhig gestellt. Von den Aufsichtsbehörden werden die kassierten Gewinnwarnungen als Kavaliersdelikt behandelt. Warum eigentlich? Oder konkreter gefragt: Wie lange noch?

Christian Sewing © imago

Christian Sewing, Chef der Deutschen Bank, hat auf dem Banken-Gipfel des „Handelsblatt“ in Frankfurt die Eröffnungsrede gehalten. Es war eine Klartext-Ansage, die sich die Führungsriege der nur rund vier Kilometer vom Veranstaltungsort entfernten Europäischen Zentralbank noch einmal in Ruhe zu Gemüte führen sollte. Sewing rechnete mit der Niedrigzinspolitik ab und verwies auf die Folgen. Er sagte:

Langfristig ruinieren diese Niedrigzinsen das Finanzsystem.

Gesamtwirtschaftlich wird eine weitere Zinssenkung auf dem aktuellen Niveau verpuffen. Sie wird lediglich die Vermögenspreise weiter in die Höhe treiben und die Sparer zusätzlich belasten.

Wer Zugang zum billigen Geld habe, gehöre potenziell zu den Gewinnern. Wer dieses Privileg nicht besitze – und das sei die Mehrheit der Bevölkerung, wenn man einmal von Konsumentenkrediten absehe – gehöre zu den Verlierern. Das spalte die Gesellschaft und helfe niemandem, so Sewing:

Mittelständler sagen mir klipp und klar: Wir werden keinen Euro mehr investieren, nur weil der Kredit noch mal zehn Basispunkte billiger wird.

Der Duisburger Fotograf Peter Lindbergh ist im Alter von 74 Jahren verstorben. Bis zuletzt porträtierte Lindbergh Persönlichkeiten unserer Zeit, darunter kürzlich Klimaaktivistin Greta Thunberg. Für die großen Modelabels aus Paris und Mailand lichtete er Schönheiten wie Linda Evangelista, Kate Moss (Foto), Cindy Crawford oder Naomi Campbell ab. Sie haben auch ihm ihre Weltkarrieren zu verdanken.

 © Taschen Verlag/dpa

Lindbergh war nicht bloß Fotograf, es ging ihm auch um die Geschichten hinter den Bildern. Oder um es mit Cindy Crawford zu sagen:

Wenn Peter Lindbergh auf den Auslöser drückte, ging es um die Frauen. Es ging nicht wirklich um Haare, Make-up oder Styling. Er hat deine Unvollkommenheiten in etwas Einzigartiges und Schönes verwandelt.

Damit hat Crawford nichts Geringeres als die Kunst der guten Lebensführung beschrieben. Wir ehren Lindbergh am besten dadurch, dass wir diesem Prinzip folgen und unsere Unvollkommenheit in etwas Einzigartiges verwandeln, das wir dann später „unser Leben“ nennen.

Ich wünsche Ihnen einen schwungvollen Start in diesen neuen Tag. Es grüßt Sie auf das Herzlichste Ihr

Pioneer Editor, Herausgeber The Pioneer
  1. , Pioneer Editor, Herausgeber The Pioneer

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