Sturmvogel über Europa

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Guten Morgen,

es gibt Tage, da schafft es auch eine wichtige Meldung nicht in die „Tagesschau“. Vielleicht, weil ein Redakteur sie übersehen hat. Womöglich hat man auch die ökonomische Tragweite nicht erkannt. Gestern war so ein Tag. Die Manager des größten Staatsfonds der Welt, des mit über einer Billion US-Dollar ausgestatteten Government Pension Fund aus Norwegen, gaben bekannt, dass sie ihre Finanzmittel, die zur Altersversorgung der etwa 5,3 Millionen Norweger gedacht sind, umschichten möchten; von Europa nach Amerika, von Old auf New Economy, von Vergangenheit auf Zukunft. Die TV-Öffentlichkeit erfuhr nichts von dem Gezeitenwechsel.

Eine Infografik mit dem Titel: Staatsfonds: Norwegen vorn

Volumen der größten Staatsfonds weltweit, in Milliarden Dollar

Dabei ist der norwegische Staatsfonds, der von der Notenbank des Landes gemanagt wird, der Seismograf der internationalen Investoren. Zittert die Kompassnadel, wackeln bald schon die Märkte. Man schätzt die Gründlichkeit und die Unvoreingenommenheit der norwegischen Notenbanker. Deshalb ist das, was die Notenbank gestern dem Parlament empfohlen hat, von historischer Bedeutung: America first, Europe later.

Wir sind der Ansicht, dass die geografische Verteilung weiter an die Märkte angepasst werden sollte, indem das Gewicht der Aktien in Nordamerika erhöht und das Gewicht der Aktien in den europäischen Industrieländern verringert wird.

Schon während der Schuldenkrise in Europa im Jahr 2012 entschied Norwegen, das damals 50 Prozent seines Investments in Europa und 35 Prozent in Nordamerika hielt, sich aus den europäischen Märkten zurückzuziehen. Bis heute hat sich das Verhältnis gedreht. Inzwischen entfallen nur noch rund 33 Prozent der Anteile auf europäische Unternehmungen – auf amerikanische derzeit 40 Prozent. Und bei Firmenbeteiligungen unter fünf Prozent entfallen auf Nordamerika heute schon 57 Prozent aller Investments.

Hintergrund der veränderten Anlageempfehlung ist die toxische Kombination von Wachstumsverlangsamung, Innovationsschwäche und politischer Ambitionslosigkeit in Europa. Fünf Gründe sprechen derzeitig gegen Europa:

Europas Bankenwirtschaft ging aus der Finanzkrise deutlich geschwächt hervor; die US-Konkurrenz triumphierte (siehe Grafik).

Eine Infografik mit dem Titel: Bankenwesen: Europas Bedeutungsverlust

Entwicklung der Marktkapitalisierung der Top-30-Banken nach Regionen, in Prozent

► Der Aktienmarkt in den USA hat sich seit der Weltfinanzkrise deutlich vitaler gezeigt. In Europa dagegen hat spätestens im Jahr 2015 die große Stagnation eingesetzt.

Eine Infografik mit dem Titel: USA hängt Europa ab

Dow Jones und Eurostoxx 50 seit 2009, indexiert in Prozent

► Beim Wachstum in ihren jeweiligen Kernmärkten haben die USA Europa und Deutschland längst abgehängt. Die US-Digitalwirtschaft boomt, unsere Automobilindustrie hat mächtig zu kämpfen. Der Vergleich VW versus Apple erzählt die Geschichte einer deutsch-amerikanischen Entkopplung.

Eine Infografik mit dem Titel: Europas Industrie fällt zurück

Börsenwert von Volkswagen und Apple, in Milliarden US-Dollar

► Auch beim Wirtschaftswachstum liegt Nordamerika vorn. 2019 wächst die US-Wirtschaft laut Internationalem Währungsfonds um 2,3 Prozent. Für 2020 werden noch immer 1,9 Prozent prognostiziert. Die EU-Wirtschaft wächst 2019 nur um 1,6 Prozent, für 2020 werden 1,7 Prozent erwartet.

► In der Geldpolitik sitzen die Amerikaner derzeit ebenfalls am längeren Hebel. Während die Europäische Zentralbank ihre Zinsen immer weiter senkte, der Leitzins bei null und der Einlagezins sogar bei Minus 0,4 Prozent liegen, begann die Fed ihren Zins seit dem Jahr 2015 zu erhöhen – das verschafft ihr nun Munition für die beginnende Konjunkturschwäche.

Eine Infografik mit dem Titel: Notenbanken: Die USA hat noch Ressourcen

Leitzinsen der EZB und FED seit 2010, in Prozent

Fazit: Europa fällt weiter zurück. Der norwegische Staatsfonds ist der Sturmvogel, der vor dem heraufziehenden Unwetter warnt. Gestern ist er gegen unsere deutsche Filterblase geflogen.

Die Klimaaktivistin Greta Thunberg hat mit ihrer „Fridays for Future“-Bewegung die deutsche Debatte geprägt. Derweil sind die USA aus dem Pariser Abkommen zum Klimaschutz ausgestiegen. Die Regierungen in Peking und Neu-Delhi denken gar nicht daran, ihren CO2-Ausstoß zu limitieren. Im Gegenteil: China plant sogar den Bau neuer Kohlekraftwerke.

Der deutsche Öko-Aktivismus komme einer Selbstbeschädigung gleich, sagt Natalie Mekelburger, Chefin des Autozulieferers Coroplast. Zuweilen hätte sie das Gefühl, es fände eine „Gehirnwäsche unter dem Motto: Rettet den Planeten“ statt.

Für den Morning Briefing Podcast habe ich mit Mekelburger über die Klimadebatte und ihre ökonomischen Folgen gesprochen. Die Familienunternehmerin leugnet nicht den Klimawandel, aber sie stört sich an der Unbedingtheit, mit der ein schneller Wechsel der Energiebasis im größten Industrieland Europas verlangt wird.

Eine Infografik mit dem Titel: Treibhausgase: Das deutsche Klimadilemma

Verteilung der weltweiten CO"-Emissionen in 2017 nach Ländern, in Prozent

Mekelburger findet regenerative Energien und Elektromobilität „hochspannend“, aber:

Man sollte den Markt entscheiden lassen, welche Richtung genau gegangen wird. Politiker können das nicht.

Uns wird eingeredet, dass wir keine Zeit mehr haben, dass wir schon bis 2030 total dekarbonisiert sein müssen. Das sagte Greta Thunberg. Und sie sagte auch, sie will uns Angst und Panik machen. Aber Angst und Panik waren noch nie gute Berater.

Wir sehen, dass hier eine ganz andere gesellschaftliche Idee dahinter steht. Man sagt, die Marktwirtschaft kann das Thema nicht lösen, hier muss der Staat eingreifen. Mit der Idee eines starken Staatseingriffs geht die Idee einer planwirtschaftlichen Gesellschaft einher. Natürlich bin ich damit nicht einverstanden. Ich weiß auch nicht, was das dem Klima bringen soll.

Fazit: Man muss die Argumente von Natalie Mekelburger nicht teilen, aber man sollte sie hören. Eine streitbare Unternehmerin durchbricht die Monotonie der Klimadebatte. Reibung erzeugt Energie.

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Die Sommerposse des Jahres 2019: Der brasilianische Staatspräsident führt einen weltweit beachteten Zweifrontenkrieg. Da sind zum einen die über 70.000 Feuer im Amazonas-Regenwald, die Jair Bolsonaro mittlerweile international diskreditieren. Und da ist die Auseinandersetzung mit Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron, die den Brasilianer als Raufbold und Chauvinisten zeigt.

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Bolsonaro will die 18 Millionen Euro Finanzhilfen der G-7-Gruppe bislang nicht haben.

Zuerst muss Herr Macron seine gegen meine Person gerichteten Beleidigungen zurücknehmen.

Der französische Präsident habe ihn einen Lügner genannt und behauptet, die Souveränität Brasiliens über den Amazonas sei „eine offene Frage“. Bolsonaros Stabschef Onyx Lorenzoni sagte, dass sich Europa lieber mit sich selbst beschäftigen sollte.

Möglicherweise sind diese Ressourcen für die Wiederaufforstung Europas relevanter.

Es folgte eine hämische Bemerkung zum Großbrand der Pariser Kathedrale Notre-Dame:

Macron kann nicht einmal ein vorhersehbares Feuer in einer Kirche verhindern, die zum Weltkulturerbe gehört.

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Der brasilianische Präsident äußerte sich indirekt zum Alter der Macron-Gattin Brigitte. Nachdem ein Internet-Nutzer ein Foto der 66-jährigen Französin neben das von Bolsonaros 37-jähriger Gattin Michelle stellte, kommentierte der Macho-Präsident in Richtung Macron mit den Worten:

Demütige den Typen nicht, haha.

Fazit: Manchmal ist die Welt kein globales Dorf, sondern nur ein großer Kindergarten.

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Johnson & Johnson hat offenbar eine äußerst erfolgreiche, aber illegale Strategie der Kundenbindung entwickelt: Der Pharmakonzern, der 15 Milliarden Dollar Gewinn pro Jahr erwirtschaftet, förderte die Abhängigkeit seiner Abnehmer von Schmerzmitteln. Zu diesem Schluss kommt ein Gericht in Oklahoma, das Johnson & Johnson jetzt zu einer Geldstrafe von 572 Millionen US-Dollar verurteilt hat. Geklagt hatte der Bundesstaat. Der Vorwurf: „Raffgier“, wie es der Generalstaatsanwalt nannte.

Der Richter sah es als erwiesen an, dass Johnson & Johnson „die Gesundheit und Sicherheit Tausender Bürger Oklahomas beeinträchtigt“ und dadurch „exponentiell steigende Suchtraten und Todesfälle durch Überdosierung“ verursacht hat.

Die Opioid-Krise hat den Staat Oklahoma heimgesucht und muss sofort beseitigt werden.

Wir lernen: Der amerikanische Rechtsstaat zeigt einmal mehr seine Wehrhaftigkeit. Die Richter sind ethisch sensibel und gegen Geschäftemacherei – wie Bayer im Fall Glyphosat und Volkswagen in der Diesel-Affäre feststellen mussten – resistent.

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Die Bundesregierung kommt beim Thema 5G-Netzausbau trotz der Versteigerungen der Lizenzen nicht nennenswert voran. Auf eine schriftliche Anfrage der FDP-Bundestagsfraktion zählte die Regierung keine konkreten Fortschritte auf, sondern verlor sich im Klein-Klein:

Die Beschleunigung von Genehmigungsverfahren und Entscheidungsprozessen ist Teil der Gesamtstrategie zum Mobilfunkausbau.

Eine Arbeitsgruppe erstelle zudem „Broschüren, in denen Best-Practice-Beispiele und konkrete Maßnahmen zur Optimierung aufgezeigt werden". Heißt im Klartext: Bislang sind kaum neue Sendemasten aufgestellt worden. Das schnelle Internet gibt es nur in Politikerreden, nicht aber in der Realität. Der Fortschritt in Deutschland ist zuweilen keine Schnecke – sondern ein Faultier. Ich wünsche Ihnen einen kraftvollen Start in den neuen Tag. Es grüßt Sie auf das Herzlichste Ihr

Pioneer Editor, Herausgeber The Pioneer
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