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Gesellschaft

Kampf um die kulturelle Hegemonie

Im Westen ringen linke wie rechte Identitätsbewegungen um Deutungshoheit, während der Liberalismus an Boden verliert. Ökonomische Krisen, politische Machtverschiebungen und kulturelle Konflikte formen eine neue ideologische Landschaft. Ein Essay von Prof. Thomas Mayer.
Thomas Mayer
06.12.2025

Mit dem Fall des Sowjetimperiums Anfang der 1990er-Jahre triumphierten die freiheitliche Gesellschaftsordnung und die freie Marktwirtschaft über die sozialistische Diktatur und zentrale Planwirtschaft.

Doch das „Ende der Geschichte“ (Francis Fukuyama) wurde nicht erreicht. Für die Sozialisten und Sozialdemokraten im Westen war der vermeintliche Sieg des Neoliberalismus eine existenzielle Bedrohung. Sie hatten sich zwar als das freundliche Gegenstück zum totalitären Sozialismus des Ostens verstanden, aber mit dessen Untergang schien auch die Existenz der milden Variante des Kollektivismus fraglich.

Polit-Ökonom Francis Fukuyama über das Ende der Geschichte © dpa

Findige Politiker kamen daher auf die Idee, dem Neoliberalismus den Wind aus den Segeln zu nehmen, indem sie einen „Dritten Weg“ einschlugen, der den Neoliberalismus mit dem demokratischen Sozialismus versöhnen sollte.

Die Kernidee des „Dritten Wegs“ war eine Neuauflage der klassischen Sozialdemokratie, verbunden mit einer Aktualisierung der „Sozialen Marktwirtschaft“.

Der Dritte Weg erwies sich jedoch als Irrweg. Denn er leidet an einem nicht aufzulösenden inneren Widerspruch. Jedes Angebot an Absicherung des Einzelnen durch das Kollektiv erzeugt „Moral Hazard“. Das heißt, der Einzelne plant die Absicherung in seine Handlungen ein und verschiebt Verantwortung für sein Tun an das Kollektiv. Doch Freiheit ohne die Übernahme von Verantwortung zerstört schlussendlich das Kollektiv, an das die Verantwortung abgeschoben werden soll.

Tatsächlich führte der Dritte Weg zurück in das zum Scheitern verurteilte Modell der Sozialdemokratie, in dem Absicherung und Umverteilung die Eigenverantwortung ersticken. Dank des Wegfalls der äußeren Bedrohung durch das Sowjetimperium während der Nachkriegszeit wurden die Verteidigungsausgaben drastisch gestutzt und die „Friedensdividende“ zum noch komfortableren Ausbau des Wohlfahrtsstaats genutzt. Da mit der „Dividende“ vielfach nicht alle Ansprüche befriedigt werden konnten, nahmen viele Staaten zusätzlich neue Schulden auf.

Deutschland verfolgte dabei einen Sonderweg. Da die Neuverschuldung in der Verfassung begrenzt worden war, erschlossen sich die verschiedenen Regierungen unter der Ägide von Bundeskanzlerin Angela Merkel eine neue Geldquelle zum Ausbau des Wohlfahrtsstaats, indem sie Investitionen in die öffentliche Infrastruktur kürzten. Da nicht einmal die Abschreibungen mit neuen Investitionen ausgeglichen wurden, erodierte der öffentliche Kapitalstock. Heute steht der marode Schienenverkehr für viele Bürger und Besucher Deutschlands symbolisch für den Verfall der Staatsleistungen.

In der Krise liegt die Macht

„You never want a serious crisis to go to waste”, soll Rahm Emanuel, Stabschef im Weißen Haus, Barack Obama geraten haben. In der Tat nutzten viele Staaten die Serien von Krisen der letzten zwanzig Jahre – die transatlantische Große Finanzkrise, die Eurokrise in Europa, die Klimakrise und schließlich die globale Coronapandemie – zum Ausbau ihrer Macht. Getreu dem Motto des umstrittenen Juristen Carls Schmitt „souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“, errangen die Staaten zunehmende Souveränität über ihre Bürger durch die Ausrufung von Ausnahmezuständen.

Da die staatlichen Machthaber ein offenes Ohr für die „woke“ Bewegung hatten, neigten sie dazu, ihre Macht zur Transformation der Gesellschaft im Sinn dieser Bewegung zu nutzen. Sie erweiterten die Rechte von Minderheiten und eroberten nach dem Rezept des italienischen Marxisten Antonio Gramsci die „Kulturhoheit“ über die Gesellschaft.

Staatlich geförderte „Non Governmental Organisations“ (NGOs) dienten zur Durchsetzung. Politischer Moralismus – die Aufstellung eines öffentlichen Prangers zur Geltendmachung von Sprechgeboten – und strafrechtliche Verfolgung unerwünschter Meinungsäußerungen waren die Instrumente. Die „sozialen Medien“ übernahmen die Rolle des Prangers und eine (dank des „Marschs durch die Institutionen“) gefügige Justiz die Rolle einer heimlichen Zensurbehörde.

Demonstration gegen Gender-Verbot in München © Imago

Rechts-Identitäre

Die Eroberung der Kulturhoheit durch die Linke war Wasser auf die Mühlen einer Neuen Rechten. Spiegelbildlich zu der Homogenisierung gesellschaftlicher Minderheiten durch die Zuweisung von Gruppenidentitäten (Migranten, Muslime, transgender Personen usw.) auf der politischen Linken schuf die Neue Rechte ihre eigenen Gruppenidentitäten.

Rechts-Identitäre sind vor allem ein europäisches Phänomen. Sie verstehen sich als eine europaweite Bewegung, die sich selbst als kultureller Verteidiger lokaler, nationaler und europäischer Identitäten präsentiert.

Unter Berufung auf das Konzept des Ethnopluralismus fordern sie die Bewahrung der kulturellen Eigenständigkeit aller Völker und lehnen dabei die Idee einer globalen kulturellen Vereinheitlichung ab. Diese Haltung richtet sich nicht nur gegen die Links-Identitären, sondern auch gegen den Liberalismus.

Die theoretische Fundierung der Bewegung liegt in den Schriften des französischen Philosophen Alain de Benoist, einem zentralen Denker der Neuen Rechten. Benoist interpretiert die Globalisierung als Folge des Liberalismus und sieht in der weltweiten Entfesselung des Kapitals eine Bedrohung der kulturellen Vielfalt. Seine Ablehnung des „Judäo-Christentums“ und der Idee universaler Menschenrechte resultiert aus der Überzeugung, dass diese die ursprüngliche europäische Kultur – die er als polytheistisch und indogermanisch begreift – zerstört hätten.

Zentral für das Denken der Identitären ist die enge Verknüpfung von Anti-Globalismus, Anti-Kapitalismus und Anti-Universalismus. Die Bewegung betrachtet die Rhetorik der Menschenrechte als ideologische Tarnung für ökonomische und kulturelle Expansion.

Diese metapolitische Strategie ist nicht neu. Sie steht in der Tradition von Denkern wie Julius Evola, der bereits in den 1920er- und 1940er-Jahren eine Synthese aus vorchristlicher, „arischer Geistigkeit“ und ausgewählten Elementen des Christentums anstrebte, um daraus eine rassisch und spirituell erneuerte Gesellschaftsidee zu entwickeln.

Erringung der kulturellen Hegemonie

Die Identitäre Bewegung steht somit für eine politisch-ideologische Synthese aus kulturkonservativem Denken, heidnisch inspiriertem Antiliberalismus und moderner Kommunikationsstrategie. Ihr Ziel ist weniger die unmittelbare politische Machtübernahme als vielmehr (dem Beispiel der Linken folgend) die langfristige kulturelle Hegemonie – die Verschiebung gesellschaftlicher Diskurse hin zu einer identitären Weltsicht, die Vielfalt nicht als universelles Menschenrecht, sondern als voneinander getrennte kulturelle Sphären begreift.

Diese Denkweise hat über die Grenzen Europas hinaus politische Resonanz gefunden. In den USA lässt sich eine ideologische Verwandtschaft zur MAGA-Bewegung („Make America Great Again“) unter Donald Trump erkennen. Deren strategischer Vordenker Steve Bannon übernahm zentrale Motive der identitären Rhetorik: die Ablehnung der Globalisierung, den Schutz „westlicher Werte“ vor Islamisierung und Migration sowie die Vorstellung einer homogenen, kulturell definierten Nation.

Auch in Europa hat die identitäre Ideologie deutliche Spuren hinterlassen.

  • In Frankreich finden sich im Umfeld des Rassemblement National von Marine Le Pen zahlreiche Anlehnungen an das ethnopluralistische Denken.

  • In Italien bezieht sich Giorgia Meloni, Premierministerin und Vorsitzende der Fratelli d’Italia, auf ähnliche narrative Muster.

  • In Ungarn etwa greift Ministerpräsident Viktor Orbán mit seiner Vision einer „illiberalen Demokratie“ direkt in das ideologische Arsenal der Neuen Rechten.

  • In Polen wiederum bediente sich die PiS-Regierung einer ähnlichen Semantik, wenn sie nationale Identität als Schutzschild gegen Brüssel, Migration und moralischen Verfall darstellt.

Die ursprünglich marginale Identitäre Bewegung ist folglich weit über ihren organisatorischen Rahmen hinaus wirksam geworden. Ihre metapolitischen Ideen wirken als ideologischer Unterstrom innerhalb zahlreicher rechtspopulistischer und nationalkonservativer Bewegungen.

Pressekonferenz mit Italiens Premierministerin Giorgia Meloni am 19.11.2025 in Rom © imago

Die Neue Rechte im Wandel

Allerdings ist die Neue Rechte im Wandel und mancherorts zur Mitte anschlussfähig geworden. In Italien verfolgt Regierungschefin Giorgia Meloni eine Politik, deren Kurs man als „mitte-rechts“ einordnen könnte. Ähnlich versucht in Frankreich Jordan Bardella, der Kronprinz von Marine Le Pen, den Rassemblement National an die politische Mitte anschlussfähig zu machen. Dagegen ist es in Deutschland noch offen, ob AfD Co-Chefin Alice Weidel den rechts-identitären Teil der Partei einhegen kann.

Die von der Neuen Linken im Namen des „Klimaschutzes“ und der „sozialen Gerechtigkeit“ angetriebene bürokratische Versteinerung der Europäischen Union, die durch die Mästung des Sozialstaats erzeugte Überschuldung der öffentlichen Hand und der aus beiden folgende wirtschaftliche Niedergang geben der Neuen Rechten Aufwind.

Dass sie die von der Linken verursachten Probleme lösen könnte, ist jedoch fraglich. Auch in Italien sorgt Giorgia Meloni zwar für innere politische Stabilität und außenpolitische Verantwortlichkeit, hat es aber nicht geschafft, mit marktwirtschaftlichen Reformen die Wirtschaft zu beleben.

Der Machiavellist im Weißen Haus

Donald Trump, Spross einer reichen New Yorker Familie, Immobilienmogul und Reality-TV Star, war ein unwahrscheinlicher Protagonist des Aufstands der von den Eliten vernachlässigten und missachteten Verlierer der Globalisierung. Aber als höchst talentierter Unternehmer im politischen Geschäft hat er gesehen, dass die Nachfrage nach politischer Vertretung der zu kurz Gekommenen von den Eliten unbefriedigt blieb.

Aber Trump ist mehr als ein findiger Politikunternehmer. Obwohl in seinem Umfeld Anklänge an die rechts-identitäre Bewegung in Europa zu finden sind, folgt er einem anderen Modell. Wenn Niccolò Machiavelli heute im Oval Office säße, hätte er sich vermutlich amüsiert. Denn in Donald Trump fand der florentinische Denker einen Schüler, der seine Ratschläge bestimmt nie gelesen hat, aber instinktiv befolgt. Trump, der Geschäftsmann-Präsident, regiert die Vereinigten Staaten wie ein Fürst der Ökonomie – misstrauisch, opportunistisch, mit untrüglichem Sinn für Macht und Abhängigkeit.

Für Machiavellis Fürst war Politik keine moralische Disziplin, sondern eine Kunst des Überlebens. Der Fürst müsse sich, schrieb er 1513, „der Natur des Tieres bedienen: des Löwen und des Fuchses“. Trump versteht diese Doppelrolle meisterhaft. Als Löwe verkörpert er Stärke, nationale Souveränität und Angriffslust. Als Fuchs setzt er ökonomische Druckmittel und narrative Tricks ein, um Gegner zu täuschen und zu kontrollieren.

Seine Wirtschaftspolitik – von Strafzöllen über Steuerreformen bis zur gezielten Förderung bestimmter Branchen – folgt weniger ökonomischer Vernunft als politischem Kalkül. Sie ist Machterhalt durch Wirtschaftspolitik, eine moderne Version jener „raison d’état“, die Machiavelli in „Il Principe“ erstmals formulierte.

Donald Trump und Xi Jinping bei ihrem Gipfeltreffen in Südkorea, 30.10.2025 © dpa

Zölle als geopolitisches Schwert

Trump ist ein strategischer Protektionist. Seine Handelspolitik ist weniger ökonomisch motiviert als machiavellistisch inspiriert: Zölle sind Waffen. Er setzt sie gezielt gegen China, Mexiko und die EU ein, um politische Zugeständnisse zu erzwingen – ganz im Sinne von Albert O. Hirschman, der 1945 beschrieb, wie Handelsbeziehungen als Instrument nationaler Macht fungieren. Hirschman warnte, dass wirtschaftliche Abhängigkeiten politische Abhängigkeiten erzeugen – und Trump nutzt das, um politische Kontrolle zu gewinnen.

Machiavellis Fürst hätte in dieser Taktik das klassische Machtmanöver erkannt. „Es ist sicherer, gefürchtet als geliebt zu werden“, schrieb er – und Trump sorgt dafür, dass Amerikas Handelspartner beides zugleich sind: abhängig und eingeschüchtert.

Förderung der Wirtschaft – als Mittel zur Herrschaft

Trump weiß, dass Wohlstand Macht stabilisiert – solange er ihm zugeschrieben wird. Daher setzt er alles daran, die Börsenkurse zu pflegen und das Wachstum zu steigern, vor allem durch Steuererleichterungen und Deregulierung. In der Logik des Fürsten: Wenn das Volk satt ist, rebelliert es nicht.

Doch Machiavelli hätte seinen Fürsten zugleich gewarnt: „Wer nur auf das Glück vertraut, verliert es bald.“ Trumps Wirtschaftserfolge ruhen auf kurzfristigen Impulsen – steigenden Märkten, billigen Krediten, populären Symbolhandlungen. Sie sind Glanzlichter der Fortuna, nicht Früchte langfristiger „virtù“ (Tatkraft und Tugend).

Die Finanzmärkte als moderne Fortuna

In der Renaissance war Fortuna das Sinnbild des Schicksals – launisch, unberechenbar, aber lenkbar durch Tatkraft. In der Moderne hat sie einen neuen Namen: die Finanzmärkte. Trump begegnet ihnen mit derselben Mischung aus Ehrfurcht und Manipulation, die Machiavelli einem Fürsten gegenüber der Fortuna empfahl. Er weiß, dass die Märkte über sein politisches Schicksal entscheiden – also streichelt er sie mit niedrigen Steuern, attackiert die Federal Reserve, wenn er die Zinsen für zu hoch befindet, und feiert steigende Aktienkurse als persönliche Siege.

Für Machiavelli war der Fürst erfolgreich, wenn er das Glück „an den Haaren packt“. Trump tut das – und verwechselt dabei die Wall Street mit dem Urteil der Geschichte.

Macht durch Kontrolle, nicht durch Ordnung

Machiavelli lehrte, dass der Fürst den Staat nur beherrscht, wenn er das Gleichgewicht zwischen Angst und Vertrauen wahrt. Trump dagegen regiert durch permanente Unruhe. Seine Wirtschaftspolitik ist Teil einer größeren Strategie der Unsicherheit: Handelskriege, Tweets gegen Konzerne, Drohungen gegen die Notenbank. Das Ergebnis ist ein Klima, in dem Loyalität wichtiger ist als Berechenbarkeit – und Macht wichtiger als Stabilität. Ein klassischer Machiavellist hätte das klüger dosiert. Trump aber treibt es bis zur Überhitzung: Er beherrscht die Kunst der Angst, nicht die der Balance.

Am Ende ist Trumps Wirtschaftspolitik weniger Ideologie als Selbstinszenierung. Er agiert als CEO eines Unternehmens namens America Inc., dessen Aktienkurs sein Selbstwertgefühl spiegelt. Er verlangt Loyalität von Managern, Diplomaten, Ministern – und misst Erfolg in Quartalszahlen, nicht in Nachhaltigkeit. Doch wie jeder Fürst, der zu sehr auf Fortuna baut, verliert er die Kontrolle über das Narrativ. Die Pandemie und der Wahlkampf 2020 ließen die Fassade bröckeln: Die Märkte blieben nervös, die Wirtschaft fiel in Rezession, die Bevölkerung zweifelte.

Obwohl die Wirtschaft trotz der Zollpolitik erstaunlich robust blieb, ist Trumps Popularität seit Beginn seiner Amtszeit stark zurückgegangen. Ob der Grund dafür seine Enttarnung als skrupelloser Machiavellist ist, bleibt allerdings unklar. Wahrscheinlicher ist, dass Trumps erratische Politik Zukunftsängste schürt. Anders als die verbohrten Ideologen in der Geschichte bringt er die Wirtschaft nicht direkt zum Absturz, schafft aber Unsicherheit, die als Gegenwind wirkt.

Der Austrolibertäre im sozialistischen Sumpf

Argentinien war das Paradebeispiel für den wirtschaftlichen Niedergang und serielle Staatsbankrotte eines sich dem Westen zugehörig fühlenden Landes. Wie Trump zu einem unwahrscheinlichen Protagonisten des Aufstands der von den Eliten vernachlässigten und missachteten Verlierer der Globalisierung in den USA aufstieg, wurde der exzentrische Ökonom Javier Milei jedoch vom argentinischen Volk als Protagonist radikaler Reformer in das Amt des Präsidenten gewählt.

Javier Milei mit Kettensäge © AP

Während Trump intuitiv Machiavellis Vorlage für einen skrupellosen Fürsten folgt, sieht sich Milei – selbst erklärter „Anarcho-Kapitalist“ – dagegen als der Umsetzer der „österreichischen ökonomischen Schule“ in die argentinische Wirklichkeit. Über viele Jahrzehnte war diese von sozialistischen und korrupten Regimen geprägt worden.

Im Zentrum der österreichischen Schule steht das Individuum und die Zurückweisung von Eingriffen des Staates in den Ablauf der Wirtschaft. Einige ihrer Lehrmeister haben das Denken und Handeln von Milei besonders beeinflusst. Ludwig von Mises steht für die aus der allgemeinen Logik stringent abgeleitete Logik für wirtschaftliches Handeln, Murray Rotbard für den „Minimalstaat“ und Friedrich von Hayek für den Markt als Schöpfer neuen Wissens.

Weit mehr als die Neoliberalen, die die Tür für eine größere Rolle des Staates öffneten, setzen die „Österreicher“ auf den Markt und wollen die Rolle des Staates auf wenige essenzielle Funktionen strikt beschränken.

Mileis wirtschaftspolitischer Kurs folgt einer klaren Logik: staatliche Haushaltsdefizite und Inflation seien Symptome staatlicher Überdehnung. Entsprechend setzt seine Regierung auf drastische Ausgabenkürzungen, nicht auf Steuererhöhungen. Die Zahl der Ministerien wurde halbiert, rund 50.000 Staatsbedienstete verloren ihren Arbeitsplatz, Subventionen für Energie, Verkehr und öffentliche Werke wurden weitgehend gestrichen.

Die Maßnahmen schmerzten, zeigten aber Wirkung. Nach jahrelangen Defiziten wies der Staatshaushalt 2024 erstmals seit 15 Jahren einen Überschuss auf. Eine umfassende Steuerreform sieht die Abschaffung von bis zu 90 Prozent der bisherigen Steuern vor. Künftig sollen die Provinzen ihre eigenen Abgaben festlegen dürfen – ein Schritt in Richtung steuerlicher Wettbewerbsföderalismus, der jedoch auch neue Ungleichgewichte bergen könnte.

Reform der Zentralbank und Währungsstabilisierung

Besonderes Augenmerk legt Milei auf die Notenbank, die Banco Central de la República Argentina, die er als Hauptverantwortliche für die Geldentwertung sieht. Bei seinem Amtsantritt waren die Verpflichtungen der Notenbank – vor allem durch die Ausgabe von Geld – nur unzureichend durch werthaltige Aktiva gedeckt.

Durch Haushaltsdisziplin, den Abbau von Zentralbankverbindlichkeiten und den Stopp der monetären Staatsfinanzierung gelang eine deutliche Stabilisierung. Das Geldmengenwachstum verlangsamte sich, und die Inflation sank von bis zu rund 290 Prozent im Frühjahr 2024 auf 31 Prozent im Oktober 2025.

Milei betrachtet diese Entwicklung als Beweis, dass fiskalische Konsolidierung die wichtigste Voraussetzung für Preisstabilität ist. Langfristig strebt er eine Dollarisierung oder zumindest eine stark eingeschränkte Rolle der Zentralbank an – in Anlehnung an Hayeks Idee der „Entstaatlichung des Geldes“.

Das Reformgesetz „Ley Bases“

Im Sommer 2024 verabschiedete das Parlament nach erbitterten Debatten das umfassende Reformpaket „Ley de Bases y Puntos de Partida para la Libertad de los Argentinos“. Es gewährt der Regierung befristete Vollmachten und bildet das Fundament für tiefgreifende Strukturveränderungen.

Kernpunkte sind: Privatisierungen (u. a. Aerolíneas Argentinas, Enarsa), Liberalisierung im Energie- und Transportsektor, Arbeitsmarktreform mit flexibleren Kündigungsregeln und der Möglichkeit kapitalgedeckter Abfindungsfonds, Abschaffung der Mietpreisbindung, sowie die Deregulierung zahlreicher Branchen.

Laut Wirtschaftsministerium sanken infolge der Reformen die Preise in mehreren Sektoren um bis zu 30 Prozent. Kritiker bemängeln die sozialen Folgen und die wachsende Unsicherheit für Beschäftigte. Doch die Armutsquote geht zurück.

Erfolge und Risiken

Die Wähler scheinen mit Mileis Zwischenbilanz zufrieden zu sein. Bei den Kongresswahlen am 26. Oktober 2025 errang Mileis Partei La Libertad Avanza einen klaren Sieg. Sie gewann 40,6 Prozent der Stimmen und 64 von 127 Sitzen in der Abgeordnetenkammer. Für die Mehrheit der Wähler ausschlaggebend war es, dass es der Regierung Milei gelungen war, die Inflationsrate drastisch zu verringern.

Hilfreich für Milei waren auch die Zerstrittenheit der Opposition und eine starke Unterstützung durch die Trump-Regierung. Das US-Finanzministerium räumte Argentinien vor der Wahl einen Währungsswap-Rahmen im Umfang von 20 Milliarden Dollar ein und kaufte Pesos am Devisenmarkt. Persönliche Unterstützung bekam Milei auch von der italienischen Premierministerin Giorgia Meloni, die dem italienstämmigen Milei und seiner Schwester bei einem Besuch im Dezember 2024 die italienische Staatsbürgerschaft verlieh.

Ganz anders urteilen ausländische Beobachter aus dem mitte-links Milieu. So klassifiziert zum Beispiel Claudia Zilla von der staatlich finanzierten deutschen Stiftung Wissenschaft und Politik Mileis politische Ausrichtung als „libertären Autoritarismus“, der die persönliche Autonomie und die Effizienz des Staates fördere, sich aber auch dem Sozialdarwinismus annähere und den „Zwischenbereich des Öffentlich-Gesellschaftlichen“ zerstöre.

Friedrich Merz bei einer Rede zum Neuen Grundsatzprogramm. © imago

Der heutige Bundeskanzler Friedrich Merz befand vor seiner Wahl im Dezember 2024, er sei „ehrlich gesagt völlig empört gewesen“, dass Christian Lindner den Deutschen geraten habe, sie „sollten mehr Milei wagen“. Und er meinte „was dieser Präsident dort macht, ruiniert das Land, er tritt die Menschen mit Füßen“, ohne dabei konkret zu werden. Darüber, dass Argentiniens Politik kein Vorbild für Deutschland sein könne, war er sich jedoch sicher.

Die Krankheit zum Tode und ihre Überwindung

Man könnte aus der Aussage des Wahlkämpfers Friedrich Merz über Javier Milei schließen, dass es Merz einfach nicht besser wusste. Oder aber, dass er sehr gut wusste, dass mit einem Bekenntnis zum Liberalismus in Deutschland keine Wahlen zu gewinnen sind. CDU und CSU wurden bei den letzten Bundestagswahlen zur stärksten Partei, weil Deutschland kränkelt. Die Symptome sieht jeder: Politikversagen, Staatsversagen, gespaltene Gesellschaft, Erosion der Meinungsfreiheit, Niedergang der Wirtschaft.

Doch um die Benennung des Grundes drücken sich alle herum: die Deutschen haben den Liberalismus verdrängt und vergessen, der ihnen nach der Kriegskatastrophe das Wirtschaftswunder und die beste Gesellschaftsordnung brachte, die sie je hatten.

Die Geschichte des Westens ist eine Geschichte des Triumphs der Freiheit des Einzelnen über das Kollektiv. Die griechische Polis, die römische Republik und die in der christlichen Welt entstandene Aufklärung haben den Westen groß gemacht, weil sie den aus der Urgesellschaft der Jäger und Sammler stammenden, herzerwärmenden Kollektivismus überwanden.

Rückfälle in diesen Kollektivismus wie im Sozialismus oder Nationalismus brachten immer wieder Rückschritte. Deshalb steht der Liberalismus für die Zukunft, Sozialismus und Nationalismus dagegen für Vergangenheit und Niedergang. Deutschland und der Westen haben nur eine Zukunft, wenn sie eine freiheitliche Gesellschaft und freie Marktwirtschaft statt Sozialismus oder Nationalismus anstrebt.

Wenn Einzelne Neues tun können, ohne damit andere in ihrer Freiheit zu beeinträchtigen, entsteht Fortschritt. Wo dagegen Gebote aufgestellt werden, die vorschreiben, was zu tun ist, und monströse Bürokratien zur Einhaltung dieser Gebote errichtet werden, kommt der Niedergang.

„Soziale Gerechtigkeit“ führt zu Ungerechtigkeit, denn jeder Mensch ist einzigartig. Ungleichheit ist deshalb für alle Menschen charakteristisch. Die Nivellierung dieser Ungleichheit im Namen der „sozialen Gerechtigkeit“ verlangt jedoch unterschiedliche statt allgemeiner Regeln.

Folglich ist das Doppelattribut „sozial-liberal“ ein Oxymoron. Mit dem Attribut „sozial“ wird eine mehr oder weniger kollektivistische Orientierung einer Gesellschaft bezeichnet. Das Attribut „liberal“ steht dagegen für den Vorrang der Freiheit. Das Attribut „sozial-liberal“ ist daher ein Widerspruch in sich. Aus der liberalen Kernidee, der Achtung des Menschen, folgt das „Soziale“. Es ist das Antidot zum Sozialismus.

Max Weber © imago

Zur Rückbesinnung auf die liberalen Werte braucht es eine neue Erzählung, die von charismatischen Politikern vorgetragen wird. Nach Max Weber sind drei Qualitäten für den Politiker entscheidend: Leidenschaft, Verantwortungsgefühl und Augenmaß. Er muss sich mit Leidenschaft einer Sache hingeben, dabei gegenüber dieser Sache verantwortlich sein und Augenmaß – also Distanz zu den Dingen und Menschen – wahren.

Leidenschaftliche Sachlichkeit und Verantwortlichkeit kann man als Stärke von Javier Milei und damit als Gründe für seinen Erfolg erkennen. Anscheinend sind sie stärker als seine sichtbare Eitelkeit, die Weber als die Schwäche aller Politiker ausmacht.

Aber Weber warnte auch: „Politik bedeutet ein starkes langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich… Nur wer sicher ist, daß er daran nicht zerbricht, wenn die Welt, von seinem Standpunkt aus gesehen, zu dumm oder zu gemein ist für das, was er ihr bieten will, dass er all dem gegenüber: ,dennoch!' zu sagen vermag – nur der hat den ,Beruf' zur Politik.“ An Mileis „Hingabe“ und Argentiniens Entwicklung könnte sich zeigen, ob die liberale Erzählung erneuert werden kann.

Hinweis: Dieser Text erschien zuerst am 28. November 2025 beim Flossbach von Storch Research Institute. Er ist hier in leicht eingekürzter Form abgebildet.

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