China

Medien: Falsche Analyse weckt falsche Hoffnung

Teilen
Merken

Die westlichen Diplomaten in der Türkei – eingetroffen mit dem Vorsatz, dort den russisch-ukrainischen Konflikt zu beenden – befinden sich nicht nur am falschen Ort, sondern im falschen Film. Der Schlüssel für eine Beendigung des europäischen Krieges liegt weder in Istanbul noch in Kiew.

Wenn die Verhandlungsdelegationen bald wieder nach Hause reisen, wird es heißen: Außer Spesen nichts gewesen.

Selenskyj und Erdoğan in Istanbul, 15.05.2025 © imago

Die Tatsache, dass es in drei Jahren nicht gelang, diesen Krieg zu beenden oder auch nur ihn zu beruhigen, hängt damit zusammen, dass man die Ernsthaftigkeit der russischen Ambition und der dahinter stehenden geostrategischen Interessen Chinas auf Seiten des Westens nicht mit derselben Ernsthaftigkeit analysiert und verstanden hat.

Warum das wichtig ist: Weil die falsche Lagebeurteilung zum falschen Tagungsort und letztlich zu falschen Hoffnungen geführt hat. Wishful thinking bedeutet eben nicht denken, sondern träumen.

Noch immer glaubt man, reale militärische Aktivitäten – Aufrüstung, Mobilmachung, Angriff – mit symbolischen Handlungen erwidern zu können. Der Ausflug von vier Staats- und Regierungschefs nach Kiew – die sich dort um ein iPhone versammeln, um Trump anzurufen – produzierte Fernsehbilder, aber auf dem Armaturenbrett der Macht hat sich die Nadel nicht bewegt.

Staats- und Regierungschefs auf dem Hauptbahnhof in Kiew, 10.05.2025 © dpa

Auch die Ankündigung des neuen deutschen Außenministers, perspektivisch werde man fünf Prozent seiner Wirtschaftskraft in die Rüstung stecken, muss Putin und Xi Jinping nicht schrecken. Auf die Friedenspartei SPD ist Verlass. Unverzüglich fiel man dem CDU-Minister in den Rücken. SPD-Politiker Ralf Stegner sagte:

Es wäre glatter Irrsinn, wenn wir bei solchen Beträgen landen würden.

Wladimir Putin (r) begrüßt Xi Jinping, 09.05.2025 © dpa

Viele Regierungspolitiker des Westens stehen auch deshalb auf verlorenem Posten, weil sie von den Denkfabriken und selbst ernannten Chefstrategen falsch beraten werden. Der Politikwissenschaftler Carlo Masala von der Universität der Bundeswehr in München erzählt in seinem Buch „Welt in Unordnung“ von den neuen multiplen Krisen, sein Kollege Peter Neumann, Professor am King’s College in London, nennt das die „New World Disorder“. Ian Bremmer von der Eurasia Group behauptet:

Der Dschungel ist zurück.

Carlo Masala, 01.09.2023 © dpa

Das Gegenteil von alledem ist richtig. Die Welt ist nicht in Unordnung. Sie ist nur in einer Ordnung, die uns nicht gefällt. Denn: Die Welt der Supermächte ist zurück. Oder anders gesagt: Im geostrategischen Dschungel von heute herrschen nicht Wildwuchs und Chaos, sondern der amerikanische Löwe und der chinesische Tiger.

In Europa dagegen ist man geradezu obsessiv mit Putin und Selenskyj beschäftigt. Zwei Spieler, die überziehen und die für sich alleine beide nicht lebensfähig sind. Ihre Machtlosigkeit kompensieren Sie mit Lautstärke:

„Beide Männer haben sich in den letzten drei Jahren einen Ruf als Maximalisten erworben“, schreiben Samuel Charap, Senior Political Scientist bei der Rand Corporation und Sergey Radchenko, Professor an der Johns Hopkins University, in der jüngsten Ausgabe von Foreign Affairs.

Der deutsche Blick sollte daher vom europäischen Schlachtfeld in Richtung Asien geweitet werden. An die Stelle der Sowjetunion ist eben nicht Russland getreten, sondern die Volksrepublik China. Die Blockkonfrontation alten Typs findet in dem neuen Duopol – China vs. USA – seine Fortsetzung. Der wichtigste Unterschied besteht darin, dass der neue Antagonist des Westens ökonomisch auf Augenhöhe spielt und aufgrund seiner technologischen Potenz zu schlagkräftigen Allianzen in der Lage ist.

Die Sowjets hatten als Partner Kuba und Angola. Im Militärbündnis Warschauer Pakt war eine Koalition kränkelnder Ostblockstaaten versammelt. Die Tschechoslowakei, die DDR und Ungarn hatten schon im Inland Mühe – siehe den Aufstand vom 17. Juni 1953 in Ost-Berlin, den Ungarn-Aufstand 1956 und den Prager Frühling 1968 –, ihr Volk in Schach zu halten. An einen Angriffskrieg gegen den Westen war nicht zu denken.

Die Chinesen sind ökonomisch, militärisch und auch bündnispolitisch von anderem Kaliber. In der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit haben sie sich unter anderem mit Russland, Indien, Iran, Pakistan und Belarus organisiert.

Eine Infografik mit dem Titel: Nato vs. Russina

Vergleich der militärischen Stärke der Nato und Russland mit China

Russland ist nach drei Jahren Krieg in der Ukraine ökonomisch und militärisch abhängig von China. Die westlichen Sanktionen haben Putin nicht erledigt, nur an die Seite der Chinesen gedrückt. Ohne chinesische Öl- und Gaskäufe und das chinesische Zahlungssystem CIPS, das mittlerweile den gesamten russischen Zahlungsverkehr mit dem Ausland abwickelt, gehen im Kreml die Lichter aus.

Die Anerkennung dieser Wirklichkeit muss Europa und die USA nachdenklich stimmen. Denn ein Drei-Fronten-Krieg – militärisch gegen Russland, ökonomisch gegen die chinesische Führung, dem bald schon ein militärischer Schlagabtausch rund um die Insel Taiwan folgen könnte – ist nicht gewinnbar. Eine atomare Weltmacht wie China kann man ärgern, aber nicht besiegen. Gegen den chinesischen Willen kann man den Ukrainekrieg verlängern, aber nicht gewinnen.

Eine Infografik mit dem Titel: China vs. Russland vs. USA

Ausgewählte Daten von China, Russland und den USA im Vergleich

Deshalb liegt der Gleichzeitigkeit von anti-russischer Rhetorik und dem Bemühen um eine ökonomische Loslösung von China eine gedankliche Überschätzung des Westens zugrunde. Einer, der das bemerkt hat und in Worte fasst, ist der CEO von JP Morgan, der größten westlichen Bank.

Jamie Dimon, Vorsitzender und CEO von J.P. Morgan Chase in Washington, D.C., am 10.04.2024 © imago

Jamie Dimon rät im Interview mit der Financial Times zur strategischen Bescheidenheit, da man alle Ziele unmöglich zugleich und noch dazu im Streit mit der halben Welt erreichen könne:

Ich denke, China und Amerika sollten sich aufeinander einlassen. Ich denke, das Erste, was man tut, wenn man sich mit jemandem zusammensetzt, ist zu fragen: Wie geht es Ihrer Familie? Was sind Ihre Ziele? Wissen Sie, wir haben alle gemeinsame Interessen.

Die ungläubige Frage der FT-Kollegin folgte prompt: Meinen Sie, der US-Präsident sollte Xi Jinping anrufen und sich nach seiner Familie erkundigen?

Dimon erwidert: „Ich denke, Erwachsene sollten miteinander reden und einander zuhören und anerkennen, wenn der andere Recht hat oder zumindest einen guten Standpunkt vertritt. Ich glaube nicht, dass Chinesen und Amerikaner derzeit miteinander im Austausch sind. Aber das kann man schon morgen ändern. Am besten beginnt man morgen mit einem Telefonat.“

Fazit: Der Schlüssel zur Lösung der großen Fragen von Krieg und Frieden liegt nicht in Moskau, Kiew oder Ankara, sondern in Peking. Die Welt besitzt mit China eine neue Ordnungsmacht, die wir nur noch nicht als solche akzeptiert haben. Wir können weiter von der „Fragmentierung der Welt“ und einer „Welt in Unordnung“ sprechen. Wir können aber auch dem Rat von Bertolt Brecht folgen:

Wer A sagt, muss nicht B sagen. Er kann auch erkennen, dass A falsch war.