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Schreiben als Weltaneignung – mit Terézia Mora

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Guten Abend,

vor der Begegnung mit Terézia Mora war ich ein bisschen aufgeregt.

Zum einen, weil ich sie für eine der bedeutendsten Autorinnen deutscher Sprache halte. Ihr erster Roman „Alle Tage“ aus dem Jahr 2004 ist damals eine große Inspiration für mein eigenes Schreiben gewesen. Zum anderen treffen wir uns nicht wie gewohnt im Pioneer-Studio in der Mommsenstraße in Berlin Charlottenburg, wo ich mich zu Hause fühle wie in einem gemütlichen Wohnzimmer. Sondern in einem Randgebiet von Sopron, der kleinen Stadt an der österreichisch-ungarischen Grenze, in der Terézia geboren ist.

Landschaft bei Sopron © Imago

Im Mietwagen krieche ich durch enge Sträßchen, die überhaupt nicht aussehen, als könnte sich hier ein Tonstudio befinden. Als das Navi die Adresse gefunden hat, ist es ein Einfamilienhaus mit Vorgarten, ohne Schild oder irgendeinen anderen Hinweis darauf, dass ich hier richtig bin.

Sopron in Ungarn © Imago

Fast im gleichen Augenblick hält ein weiteres Auto, und Terézia und ihre Tochter Iz steigen aus. Sie begrüßen mich so herzlich, als wären wir hier zu einem Familientreffen versammelt, und sofort ist jede Unruhe verflogen. Terézia klingelt an der Haustür und unterhält sich auf Ungarisch mit einer Dame, so lange, bis sich herausstellt, dass sich im Keller unter dem Haus neben der Garageneinfahrt tatsächlich ein Ort für unser Gespräch befindet.

Das Studio ist eng und auch bei eingeschaltetem Licht sehr dunkel, und irgendwie spürt man leicht gruselige Fritzl-Vibes. Die Wände sind – hoffentlich aus akustischen Gründen – mit Paneelen ausgekleidet, die mit ihren unzähligen Fächern an Setzkästen erinnern, in denen Großmütter früher kleine Glastiere, Fingerhüte, Medaillons und anderen Nippes aufbewahrten. Mit etwas Mühe organisieren wir zwei Gläser Leitungswasser und einen Stuhl für Iz, und dann geht es los.

Und es wird ein spannendes Gespräch – wie sollte es anders sein, angesichts von Terézias Scharfsinn und ihrem Talent zu feiner Selbstironie!

Wir sprechen über ihr Schreibtagebuch namens „Fleckenverlauf“, und es fasziniert mich ein weiteres Mal zu erleben, wie auch eine noch so hochdekorierte Schriftstellerin – Terézia ist Trägerin des renommierten Büchner-Preises – im Schreiballtag mit den gleichen psychischen und physischen Herausforderungen zu kämpfen hat wie jeder andere schreibende Mensch.

Anscheinend führen die besonderen Anforderungen der schöpferischen Tätigkeit entweder zu Narzissmus oder zu notorischem Selbstzweifel – der erste Weg wird tendenziell eher von Männern, der zweite eher von Frauen beschritten. Beide Pfade sind anscheinend gut für die Kunst, aber nicht unbedingt gut für das Lebensglück der Autorinnen und Autoren.

Schriftstellerin Terézia Mora  © Imago

Hören Sie selbst, wie Terézia Mora mit schonungsloser Ehrlichkeit von ihrem Leben und Schaffen hinter den Ehrungen erzählt! Wie sie ihre tiefe Liebe zur Literatur immer wieder aufs Neue belebt und wie es ihr gelingt, nicht wegen, sondern trotz des Schriftstellerberufs ihre Bücher fertigzustellen. Ebenso spannend ist ihr Bericht darüber, wie es für eine Autorin ungarischer Herkunft immer unmöglicher wird, sich politische Neutralität zu bewahren, weil ein System wie das von Viktor Orbán zur Positionierung zwingt.

Ich wünsche Ihnen viel Spaß mit Edle Federn und Terézia Mora.

Juli Zeh spricht mit Terézia Mora über „Fleckenverlauf“

The Pioneer Literatur-Podcast Edle Federn

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Veröffentlicht in Edle Federn von Juli Zeh.

Podcast

Edle Federn

© Luchterhand

Fleckenverlauf ist ein Schreibtagebuch, eine Art Selbstreportage, in der Terézia Mora rückhaltlos offenlegt, unter welchen Bedingungen ihre Texte zustande kommen oder eben nicht. Sie nimmt uns mit, tief hinein in die Verästelung ihres Alltags, in dem wir miterleben dürfen, wie sich die Bestandteile des täglichen Lebens in Literatur verwandeln können.

Denn Terézia geht durch die Welt wie eine Treibgutsammlerin, die immer wieder stehen bleibt, sich bückt, etwas aufhebt und anschaut, um zu prüfen, ob sie es für ihre Kunst verwenden kann. Gleichzeitig kann der Alltag aber auch zur größten Hürde im Schreibprozess werden, denn der Schriftstellerberuf wurde vor allem erfunden, um Menschen vom Schreiben abzuhalten. Vom Pendeln zwischen Schreibversuchen und Schreibscheitern, die gleichzeitig immer auch Lebensversuche und Lebensscheitern sind, davon erzählt Terézia Mora in Fleckenverlauf mit einer Unmittelbarkeit, die einen manchmal geradezu am Kragen packt. Zugleich läuft die Zeitgenossenschaft mit wie eine Hintergrundmusik, nicht aufdringlich laut, aber unüberhörbar, veränderte gesellschaftliche Realitäten, europäische Autokratien, das Unverschämtwerden des Rassismus, Sorge um die Demokratie bis hin zum Beginn der Corona-Pandemie.

Terézia paart den unbedingten Willen zur Wahrhaftigkeit mit ihrer poetischen Kraft, wodurch eine besondere Erkenntnisfähigkeit entsteht, die nur der Literatur vorbehalten ist. Erst indem man sich die Welt anverwandelt, kann man ihr wahres Gesicht enthüllen – besser gesagt, eines ihrer acht Milliarden wahren Gesichter, denn es gibt so viele Welten, wie es Menschen gibt. Terézia Mora lässt uns für 300 Seiten in die Ihre ein, sodass man geradezu zum Mitbewohner eines schreibenden Bewusstseins wird. Besessen und beseelt.

Gute Menschen Buchcover © Piper Verlag

Als Nächstes treffe ich mich mit Frédéric Schwilden, dessen neuer Roman „Gute Menschen“ ein tolles Leseerlebnis ist: Eine Geschichte, die tief in die Psychologie der Zeitgenossenschaft eindringt und moderne Menschen porträtiert, die alles richtig machen möchten und doch bei der Frage, was ein guter Mensch in einem guten Leben überhaupt sein soll, auf tragische Weise ins Schlingern geraten.

Bis bald,

Ihre

Pioneer Editor, Schriftstellerin
  1. , Pioneer Editor, Schriftstellerin

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