Ausgehend von den USA zeigt sich aktuell ein grundlegender Kurswechsel in der nationalen Industriepolitik vieler Länder. Es geht um eine stärkere Fokussierung auf die heimische Produktion. Noch vor wenigen Jahren galt die globale Arbeitsteilung als nahezu alternativlos.
Die Idee, nationale Industriepolitik wieder in den Vordergrund zu rücken, schien anachronistisch. Heute gehören Subventionen, lokale Produktionsvorgaben und der Aufbau strategischer Reserven wieder zum politischen Werkzeugkasten. Unter Donald Trump sind die Vereinigten Staaten mit einer ganzen Flut an Zöllen, „Buy American“-Klauseln und milliardenschweren Förderprogrammen für Chips zum Vorreiter geworden.
Dabei geht es einerseits um das „nationale Ego“, andererseits gibt es auch ein Interesse, die bisherigen Verlierer durch die Rückkehr zu lokaler Fertigung zu kompensieren, um neue Allianzen zu bilden und so die wachsende Polarisierung zu adressieren. Gerade in strukturschwachen Regionen, die unter Produktionsverlagerungen gelitten haben, wird die Rückkehr zu lokaler Fertigung als Chance gesehen.
Johannes Müller © Alex Kraus PhotogrphyResilienz als Argument
Hinzu kommen Aspekte wie Sicherheit, ein stabiles Angebot und die Kontrolle über wichtige Technologien. Vor dem Hintergrund der hohen geopolitischen Unsicherheit werden zu starke Abhängigkeiten mittlerweile als problematisch erachtet.
Kritische Marktbeobachter sehen in dieser Entwicklung hingegen eine Abkehr von der Globalisierung mit möglichen Folgen wie höheren Preisen und weniger Wettbewerb. Ökonomen warnen vor einer Spirale protektionistischer Maßnahmen, die zu Handelskonflikten führen könnten. Zudem könnten kleinere Länder unter Druck geraten, da ihnen die finanziellen Mittel für umfangreiche Subventionsprogramme fehlen.
Auch internationale Organisationen wie die Welthandelsorganisation WTO sehen die Gefahr, dass die Regeln des freien Handels zunehmend ausgehöhlt werden. Doch diese Sichtweise könnte zu kurz greifen. Denn im Kern geht es um die Frage, ob den Ländern interne Stabilität oder höhere Effizienz durch eine globale Industriepolitik wichtiger ist.
Ende des bisherigen Freihandels
Lange Zeit galt das Prinzip, dass alle profitieren, wenn jedes Land das produziert, was es am besten kann. Das so genannte Ricardo-Modell beschreibt einen großen Vorteil des internationalen Handels. So konnte Deutschland beispielsweise lange von günstigen Energieimporten und dem Export hochwertiger Maschinen profitieren, während andere Länder ihre Stärken in Rohstoffen oder der Massenproduktion ausspielten.
Doch dieses Modell funktioniert nur unter bestimmten Bedingungen, wozu stabile Lieferketten und das Fehlen geopolitischer Störungen gehören. Genau diese Voraussetzungen scheinen allerdings aktuell nicht mehr gegeben zu sein. Die Theorie der komparativen Vorteile stößt an ihre Grenzen, wenn politische Risiken und strategische Engpässe die ökonomische Logik überlagern.
Die Corona-Pandemie, geopolitische Konflikte sowie zwischenzeitliche Engpässe bei Energie, Chips und Medikamenten haben gezeigt, wie verletzlich globale Lieferketten sein können. Allein im Jahr 2021 stiegen die Preise für Halbleiter um mehr als 30 Prozent und die Lieferzeiten verlängerten sich drastisch.
Hinzu kamen Frachtraten, die sich zeitweise vervielfachten, sowie Produktionsstopps in Schlüsselindustrien. Deshalb greifen viele Regierungen aktuell wieder stärker in die globalen Märkte ein – mit gezielten Förderungen und dem Aufbau lokaler Kapazitäten.
Chinas Strategie
Dieser Trend gewinnt auch in Europa und Asien zunehmend an Fahrt. In China etwa wird die „Dual Circulation“-Strategie verfolgt, die den Binnenmarkt stärken und die Abhängigkeit von ausländischen Technologien gleichzeitig reduzieren soll.
Die folgende Grafik zeigt, wie sich die Summe von Importen und Exporten einzelner Länder, ausgedrückt in Prozent des Bruttoinlandsprodukts, in den vergangenen Jahren entwickelt hat. Diese Kennzahl, weithin auch Trade Openess Index genannt, ist ein guter Gradmesser dafür, wie „offen“ sich eine Volkswirtschaft in Bezug auf den Handel präsentiert.
Nach mehrjährigen Höchstständen im Jahr 2022 ist in nahezu sämtlichen beobachteten Ländern ein (teils deutlicher) Rückgang zu erkennen, der durchaus das Potenzial hat, sich in den kommenden Jahren fortzusetzen. Zumindest zeigt sich in den Zahlen mehrheitlich eine Bestätigung dessen, was die De-Globalisierungs-Debatte zum Inhalt hat.
Eine Infografik mit dem Titel: Internationaler Handel schwächt sich ab
Summe von Exporten und Importen von Gütern und Dienstleistungen als Prozent des BIP
Viele Länder versuchen, sich mit dem Aufbau eigener Strukturen gegen Störungen im internationalen Handel abzusichern. Das kostet zwar zunächst Geld, beispielsweise durch höhere Produktionskosten oder doppelte Strukturen.
Im Ernstfall könnte jedoch ein Schutz vor größeren Schäden bestehen, die oft so lange unterschätzt werden, bis sie Realität werden. Nach unserer Meinung haben die Märkte lange unterschätzt, wie stark geopolitische Risiken und strategische Engpässe die wirtschaftliche Architektur verändern können – wir erleben eine Neubewertung von Stabilität als Standortfaktor.
Autonomie wird bedeutender
Damit rückt die Frage nach strategischer Autonomie in den Vordergrund – nicht nur für Staaten, sondern auch für Unternehmen, die ihre Lieferketten neu bewerten müssen. Viele Konzerne kalkulieren inzwischen nicht nur die Kosten, sondern auch die Resilienz ihrer Wertschöpfungsketten.
© ImagoNatürlich birgt eine solche Industriepolitik auch Risiken. Wenn sie zu stark oder zu einseitig betrieben wird, kann sie Wettbewerb hemmen und Innovationen bremsen. Ein Übermaß an Subventionen kann, wie die Erfahrung mit staatlich gestützten Stahlindustrien in den 1970er-Jahren zeigt, zu ineffizienten Strukturen führen.
Entscheidend ist daher die richtige Dosierung, sie müssen gezielt, zeitlich begrenzt und im Idealfall auch international abgestimmt erfolgen. Eine koordinierte Vorgehensweise könnte verhindern, dass sich Länder gegenseitig in einen Subventionswettlauf treiben, der am Ende allen schadet.
Die zentrale Frage lautet also nicht: „Globalisierung – ja oder nein?” Sondern: Wie viel Resilienz benötigen wir und wie viel Effizienz sind wir bereit, dafür aufzugeben?
Eine moderate De-Globalisierung kann sogar Vorteile bringen, etwa durch mehr regionale Produktion, kürzere Lieferwege und höhere Umweltstandards. Regionale Wertschöpfungsketten könnten zudem Innovationen in Bereichen wie Kreislaufwirtschaft und nachhaltige Produktion fördern – ein Aspekt, der bisher oft unterschätzt wird. Zudem kann sie helfen, die Akzeptanz offener Märkte zu stärken, da sie Ängste vor Abhängigkeiten reduziert.
Wer diesen Balanceakt meistert, könnte nicht nur ökonomisch, sondern auch politisch profitieren, indem er Vertrauen in die Stabilität des eigenen Wirtschaftsmodells schafft.
Fazit: Zwischen dem Ideal der freien Märkte und deren realen Herausforderungen besteht durchaus Spielraum. Wer diesen klug nutzt, könnte zukünftig besser aufgestellt sein.