The Pioneer: Donald Trump sagt, die Gründe für die Gründung der EU seien die Handelsvorteile, die sie sich gegenüber den USA verschaffen konnte. Sind die Amerikaner, die wir als Transatlantiker kennengelernt haben, noch unsere Freunde?
Klaus von Dohnanyi: Das kommt darauf an, welche Amerikaner Sie meinen. Im Großen und Ganzen waren sie es nämlich nie. Sie hatten immer ihre eigenen Interessen. Amerika hat in Europa immer wieder eingegriffen und hat uns eigentlich mehr geschadet als geholfen.
The Pioneer: Aber zunächst einmal hat Amerika uns doch gefördert – man hat uns nicht nur mit dem Marshallplan, sondern später auch mit der Nato enorm geholfen, das Land zu werden, das wir geworden sind. Dieser feindliche Ton ist erst mit Donald Trump in die Szenerie gekommen. Oder würden Sie sagen, dieser Ton befindet sich in der Kontinuität der Interessen?
Dohnanyi: Der ist in der Kontinuität der Interessen, die sich natürlich den Umständen entsprechend gewandelt haben. Im Kalten Krieg und nach dem Fall der Mauer war das anders.
The Pioneer: Wir sollten uns also entweder Gelassenheit auferlegen und uns nicht so aufregen? Oder sollten wir unsere – vielleicht auch europäischen – Interessen erkennen und auf den groben Klotz einen groben Keil setzen?
Dohnanyi: Mir ist das zu sehr europa-amerikanisch gedacht. Zu Europa und dem Rest der Welt gehört natürlich – in besonderer Weise – auch Russland. Russland ist Europas Nachbar und offenkundig nicht ungefährlich. Und je gefährlicher ein Nachbar ist, desto mehr muss man sich mit ihm beschäftigen und mit ihm reden. Ich las neulich folgenden schönen Satz: „Wenn du Frieden willst, sprich mit deinen Feinden und nicht mit deinen Freunden.“
Das ist aus meiner Sicht eine wichtige Ermahnung. Wir haben uns völlig aus dem Kontakt mit Russland herausdrängen lassen und tun bis heute so, als wären die Amerikaner unser Vormund – sie sollen für uns die Kastanien aus dem Feuer holen, dabei haben sie diese Kastanien zum Teil selbst ins Feuer geworfen.
The Pioneer: Das heißt, dass wir uns selbst ertüchtigen und unser Schicksal jetzt in die Hand nehmen müssen, zumal der Mann im Weißen Haus gar nicht mehr unser Vormund sein möchte.
Dohnanyi: Das ist richtig. Und dazu müssen wir den Mut haben, zwei Dinge zu tun: Erstens, selber mit Russland und Putin zu reden. Und zweitens, den Amerikanern erklären, dass dies auch unsere Aufgabe ist. Wenn wir den Grundgedanken „Wenn du Frieden willst, sprich mit deinen Feinden“ wirklich verfolgen, dann haben wir, glaube ich, eher eine Chance, Frieden in Europa herzustellen, als wenn wir auf Trump warten.
Wladimir Putin in Moskau am 26.05.2025 © ImagoThe Pioneer: Ist Russland unser historischer Feind?
Dohnanyi: Nein, und Russland darf auch nicht unser historischer Feind sein. Wir hatten auch gute Zeiten und Formen der Zusammenarbeit, und dass wir das im Augenblick nicht können, ist übrigens vielleicht auch ein Problem, das im Interesse der USA ist. Es gibt ja dieses berühmte Buch vom Politikwissenschaftler und Sicherheitsberater von US-Präsident Jimmy Carter, Zbigniew Brzeziński, der postuliert, dass eine Freundschaft zwischen Russland und Deutschland für die USA gefährlich sei. Deswegen glaube ich, dass daher auch manche Probleme rühren und nicht von Russland alleine stammen, sondern auch von den USA vorangetrieben werden.
The Pioneer: Sie meinen, dass Amerika ein Interesse daran hat, dass wir uns mit unserem großen geografischen Nachbarn – der uns ja in vielerlei Hinsicht übertrifft, nicht nur bei den Bodenschätzen, sondern auch bei den Quadratkilometern – aus amerikanischer Sicht nicht zu eng einlassen sollten?
Dohnanyi: Sehr richtig. Denn auch in friedlichen Zeiten, vor dem Ukraine-Krieg, haben die Amerikaner bei Nord Stream 1 und 2 interveniert, weil ihnen das zu nahe zwischen Deutschland und Russland war. Diese historische Beziehung, als der Zar im napoleonischen Krieg einer der Befreier Deutschlands war, ist den Amerikanern ein Dorn im Auge. Das beschreibt Brzeziński auch in seinem bedeutenden Buch Die einzige Weltmacht sehr intensiv.
The Pioneer: Allerdings haben Sie auch festgestellt, dass Sie sich in der Einschätzung der strategischen Interessen Putins vertan haben – deswegen auch eine Neuauflage Ihres Buches. Wie schauen Sie heute auf ihn?
Dohnanyi: Als ich das damals geschrieben habe, war ich davon ausgegangen, dass US-Präsident Joe Biden ein vernünftiger Mensch ist und sich nicht gegen die Interessen der USA und Europas dazu hinreißen lässt, indem er die Aufnahme der Ukraine in die Nato wieder aufgreift. Trump hatte ja völlig recht, als er dieser Tage gesagt hat, dass wir doch eine Einigkeit in Amerika und im Westen hatten, die Ukraine nicht in die Nato aufzunehmen. Warum muss Biden das 2021, 2022 wieder aufgreifen? Er und sein Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg haben da, meiner Meinung nach, auch eine große Schuld auf sich geladen. Das war überflüssig und provokant – und dass Putin die Ukraine nicht gerne in der Nato und damit auch auf der Krim haben will, ist wiederum verständlich.
Joe Biden, Olaf Scholz und Jens Stoltenberg (r) beim Nato-Gipfel am 10.07.2024 © dpaThe Pioneer: Hat Putin denn wirklich seinen Interessen – auch mit den historischen Vorbildern im Kopf – gedient oder hat er sie nicht vielmehr überdehnt? Er kommt auch nach drei Jahren Krieg nicht zum Erfolg.
Dohnanyi: Naja, was heißt überdehnt? Stellen Sie sich mal vor: Der Ukraine bleibt die Krim. Die Krim entscheidet über den warmen Wasserzugang Russlands. Glauben Sie wirklich, dass Putin bewegungslos zugesehen hätte, bis sich die Nato in Sewastopol eingenistet hat? Das hängt alles miteinander zusammen.
The Pioneer: Aber was bedeutet das für den Fortgang der Dinge? Was kann unser Interesse sein, was haben wir ihm zu bieten und was hat er uns zu bieten?
Dohnanyi: Das ist sehr, sehr schwer zu sagen. Putin möchte eine schwache Ukraine, die ihm nicht noch einmal in den Weg kommt. Und die Ukraine selber möchte stark sein und, wenn irgend möglich, das ganze von Russland eroberte Territorium wieder zurückbekommen. Das ist eine unlösbare Situation.
The Pioneer: Nun haben die SPD und der damalige Kanzler Helmut Schmidt, dessen Kabinett Sie angehörten, die Situation mit einer ganzen Serie von Verträgen und Verhandlungen – zum Beispiel der Helsinki-Konferenz – über die Neuordnung Europas und ein regelbasiertes Zusammenleben zwischen dem kommunistischen und dem kapitalistischen Block organisiert. Wäre das ein Vorbild für heutige Verhandlungen?
Dohnanyi: Lassen Sie mich historisch einen Schritt zurückgehen: Als Bismarck 1890 ging, hat zwei Jahre später sein Nachfolger, der Staatssekretär Holstein, den sogenannten Rückversicherungsvertrag eingerissen – nur wenige Jahre nach dem Rücktritt Bismarcks. Willy Brandt hat später – und ich hab’s ja selber miterlebt – mit Egon Bahr in mühsamer Kleinarbeit verstanden, dass Frieden und Sicherheit tägliche Arbeit sind. Diese Mühen der Regierung Brandt sind einfach eingerissen worden. Die Leute sagen, dass das falsch und zu nachgiebig war und dass man Friedenspolitik macht, indem man Waffen aufstellt. Das ist dummes Zeug. Natürlich kann man Sicherheit auch durch Abschreckung garantieren, aber das reicht nicht. Es braucht die Absicht, Frieden herzustellen.
Wahlparteitag der SPD 1980 in Essen: Egon Bahr und Willy Brandt. © ImagoThe Pioneer: Deswegen war auch Ihre damalige Regierung rückblickend nicht pazifistisch, sondern hat sogar einen höheren Anteil in die Rüstung investiert, gemessen am Bruttoinlandsprodukt, als die jetzige Regierung.
Dohnanyi: Richtig, Brandt war kein Pazifist. Brandt und Bahr waren sich der Notwendigkeit von Stärke bewusst. Aber sie wussten auch, dass das allein nicht ausreicht. Wenn Sie Frieden haben wollen, dann müssen Sie die Interessen der anderen Seite respektieren – wenn auch nicht immer befolgen. Helmut Schmidt hat das damals in seinem Buch sehr klug aufgeschrieben: „Wenn es eine Wiedervereinigung gibt, dann müssen wir als Erstes darauf achten, dass dadurch die Sicherheit der Sowjetunion nicht zu sehr in Anspruch genommen wird.“ Und das haben wir leider nicht getan. Kaum war die Mauer gefallen, haben wir dafür gesorgt, dass die Länder auf der sowjetischen Seite in die Nato aufgenommen wurden. Das war ein kardinaler Fehler.
The Pioneer: Viele in Europa sagen, dass jetzt erst recht aufgerüstet werden muss, um Putin die Grenze aufzuzeigen. Oder würden Sie sagen, dass die Ukraine fallengelassen werden muss?
Dohnanyi: Nein, aber mit der Ukraine muss ernsthaft darüber gesprochen werden, dass sie einen Zustand wiederherstellen will, den sie nicht selber herstellen kann. Und die Amerikaner sagen gegenwärtig, dass ihnen die Kartoffel zu heiß ist. Man muss Wolodymyr Selenskyj sagen, dass es Dinge gibt, auf die er nicht bestehen kann. Die Ukraine hat aus meiner Sicht keinen Anspruch auf die Krim und den Donbass. Der Donbass ist so russisch in seiner Struktur, dass die Ukraine verstehen muss, dass dieser Teil in Zukunft nicht zu ihr gehören wird. Und dass die Krim nicht zur Ukraine gehört, ist ja eine Selbstverständlichkeit. Die gehört seit 1783 zu Russland.
Explosion auf der Krim im August 2022. © ImagoThe Pioneer: Und mit diesem amputierten Reststaat müsste sich die Ukraine zufriedengeben? Um dann was zu sichern – ihr Leben und Überleben im Westen, in der EU und in der Nato?
Dohnanyi: In der Nato nicht, aber in der EU. Was die Nato angeht, ist das meiner Meinung nach längst entschieden. Das wollen nicht einmal mehr die Amerikaner – und wollten sie eigentlich nie. Warum Biden davon wieder abgewichen ist, kann ich nicht verstehen. Ich glaube, wir müssen den Geisteszustand von Herrn Biden noch weiter zurückverfolgen als nur in die Zeit, in der er um seine Präsidentschaft gerungen hat.
The Pioneer: Die Ukraine muss also so schnell wie möglich befriedet werden – und dann?
Dohnanyi: Die Ukraine wird, wie das versprochen wurde, in die EU kommen. Für die EU wird das ein sehr schwieriger Zustand werden, denn jemanden zu haben, der strukturell mit unserem großen Nachbarn verfeindet ist, ist nicht sehr einfach. Aber so wird es wahrscheinlich zu lösen sein. Die Ukraine muss auf die Gebiete, die sie nicht wiederhaben kann, verzichten.
The Pioneer: Wenn wir einen Friedensschluss auf dieser Grundlage unterstellen, wie geht es danach weiter? Setzt man den deutsch-russischen Handel da fort, wo man vor den Sanktionen aufgehört hat?
Dohnanyi: Wir sollten uns auf jeden Fall nicht darauf einrichten, eine dauerhafte Feindschaft mit Russland zu haben. Die Verhältnisse haben sich durch den Ukrainekrieg, den Putin und Russland ja begonnen haben, erheblich erschwert. Aber wir müssen schon versuchen, mit diesem großen Nachbarn wieder auszukommen. Man muss ja nicht gleich eine Freundschaft im Auge haben. Wir müssen bereit sein, selber mit Putin zu reden und das nicht Herrn Trump überlassen. Wir befinden uns nicht in der Vormundschaft von Washington.
The Pioneer: Aber mit welchem Ziel? Russland hat ja in der Zwischenzeit neue Partner gefunden.
Dohnanyi: Die Handelsbeziehungen werden nicht mehr so sein, wie sie vor dem Ukrainekrieg waren, und auch nicht so, wie sie vielleicht in der großen Tradition zwischen Russland und Westeuropa waren. Aber wir müssen sie wiederbeleben.
The Pioneer: Der Ministerpräsident von Sachsen, Michael Kretschmer, sagt, er befürworte Gespräche mit Russland über Nord Stream – die Pipelines könnten reaktiviert werden.
Dohnanyi: Beide Pipelines sind im Grunde genommen über amerikanische Sanktionen gefallen. Die Sanktionen wurden ja von Biden und seinen Vorgängern – wohl auch von Barack Obama – in Gang gesetzt. Das könnte mit Trump eines Tages beendet werden. Die Amerikaner könnten selber ein Interesse daran haben, Russland wieder stärker in den Westen zu ziehen.
The Pioneer: Friedrich Merz fand Ihre Sicht auf Amerika empörend. Glauben Sie, dass Sie heute dichter bei ihm sind – was nicht nur seiner Kanzlerschaft, sondern der veränderten Situation mit Amerika geschuldet sein könnte?
US-Präsident Trump empfängt Kanzler Merz am Weißen Haus © dpaDohnanyi: Ich schätze Merz sehr, er ist unser Bundeskanzler, und ich würde ihn überall unterstützen, wenn es geht. Aber er hat sich ja mir in den Weg gestellt und ich glaube, dass er das heute nicht mehr tun würde. Ich glaube, er muss heute erkennen, dass meine Einschätzung von der Rücksichtslosigkeit amerikanischer Interessen sich seither bestätigt hat und ich da nicht auf dem Irrweg war.
The Pioneer: Sie hatten ja schon damals eine sehr, sehr kritische Haltung zu Amerika. Seit Trump wütet – auch gegenüber den deutschen Freunden –, hat man das Gefühl, dass Sie vielleicht sogar untertrieben haben.
Dohnanyi: Ein früherer englischer Premierminister, Lord Palmerston, sagte bereits im 18. Jahrhundert: In der internationalen Politik gibt es keine Freunde, sondern nur Interessen. Das ist auch heute noch so. Wenn unsere Interessen sich entgegenstehen, dann werden die Amerikaner sich immer für ihre Interessen entscheiden – und ich finde, Deutschland sollte das auch tun.
The Pioneer: Ihr Buch heißt Nationale Interessen. Ich gehöre nicht zu denen, die den Nationalstaat voreilig verabschieden wollen. Gleichwohl bildet sich doch – unter Druck aus Amerika und Moskau – etwas Neues. Scheint sich die EU nicht erfreulicherweise als mehr zu erweisen als nur eine Notlösung nach dem Krieg?
Dohnanyi: Ja, das ist völlig richtig. In der Handelspolitik machen wir auch Fortschritte. Außenpolitisch wird das, glaube ich, nicht der Fall sein – schon allein deswegen nicht, weil die Interessen innerhalb der EU sehr unterschiedlich sind. Jeder ist für seine eigene Außenpolitik verantwortlich und es wäre unsere Aufgabe, Europa außenpolitisch zu führen.
The Pioneer: Sie sehen also keine europäische Außenpolitik, sondern eine Führungsrolle für Deutschland? Bei der Verteidigungspolitik sind wir ja der gesamteuropäischen Realität schon näher.
Dohnanyi: Ich teile Ihre Meinung nicht, dass wir in der europäischen Verteidigungspolitik weiter sind. Versuchen Sie mal, zwischen Spanien, Frankreich und Polen eine Gemeinsamkeit zu sehen. Ich glaube auch nicht, dass die französische oder gar die britische Atombombe irgendeinen Schutz für Europa bedeutet.
The Pioneer: Muss Europa dann nicht – auch in Sachen Nato – für sich selbst sorgen und denken?
Dohnanyi: Sehr schwierige Frage. Zum jetzigen Zeitpunkt ist eine Abschreckungsstrategie auf dem europäischen Kontinent ohne die Amerikaner nicht vorstellbar – und von ihnen auch nicht gewünscht. Denn die USA wissen: Wenn sie in Europa die Herrschaft verlieren, verlieren sie damit auch ihre Weltherrschaft. Der sogenannte Brückenkopf ist für die amerikanische Weltpolitik von entscheidender Bedeutung.
The Pioneer: Man kann sich nicht ganz sicher sein, ob Trump diesen eurasischen Brückenkopf für die amerikanische Weltmacht überhaupt in seiner Bedeutung erkennt.
Dohnanyi: Auch Trump wird nicht für immer sein. Und deswegen glaube ich, dass das amerikanische Interesse an Europa nicht völlig verschwinden wird.
The Pioneer: Gleichzeitig fragt man sich, wo eigentlich Ihre Partei, die SPD, in dieser strategischen Diskussion bezüglich Europa und dem Verhältnis zu Russland und den USA geblieben ist.
Dohnanyi: Sie fragen, wo die SPD außen- und sicherheitspolitisch ist? Ich sage: Nirgendwo.
The Pioneer: Wie kann das sein?
Willy Brandt auf dem SPD-Bundesparteitag 1972 © ImagoDohnanyi: Man hat das Erbe Willy Brandts zugeschüttet. Man versteht bis heute nicht, welche Bedeutung dieser Versuch gehabt hat, in der Zeit des Kalten Krieges eine Brücke zu bewahren und auszubauen.
The Pioneer: Aber wer hat das heute zu beantworten? Die SPD stellt immerhin den Verteidigungsminister. Auch Helmut Schmidt war das eine Zeit lang – das ist durchaus eine Position, aus der man sich an diesen Debatten beteiligen sollte und vielleicht sogar auch muss.
Dohnanyi: Haben Sie den Kollegen Boris Pistorius jemals darüber sprechen gehört, dass auch Diplomatie ein Sicherheitsfaktor ist? Sie hören ihn nur, wenn es um Kanonen, Panzer oder Ausgaben für die Rüstung oder die Bundeswehr geht. Und das ist ein Irrtum. Sicherheitspolitik ist sehr stark abhängig von Diplomatie – und von dem Versuch, den Gegner zu kennen, mit ihm zu sprechen und ihn auf die eigene Seite zu ziehen. Ich finde, dass das ein wirkliches Manko dieses sonst so hochgeschätzten Verteidigungsministers ist.
The Pioneer: Als kürzlich der neue Außenminister Johann Wadephul ein Verteidigungsbudget von fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts – also eine Verdopplung – ins Gespräch brachte, da sagte der SPD-Verteidigungsminister nur, dass er für dieses Thema zuständig sei. Was mir keine adäquate Antwort auf diese Forderung schien. Was würden Sie erwidern?
Dohnanyi: Ich kann nicht beurteilen, wie viel Geld es braucht, um eine abschreckungsfähige Bundeswehr als Teil der europäischen Verteidigung zu haben. Aber ich würde es immer mit der Notwendigkeit verbinden, einen diplomatischen Diskurs mit Russland zu führen. Ich habe dazu noch nie auch nur ein Wort von Pistorius gehört. Und das finde ich erschreckend – weil das bei Verteidigungsminister Helmut Schmidt immer ein Hauptthema war.
Finanzminister Lars Klingbeil © dpaThe Pioneer: Nun hätte SPD-Vorsitzender Lars Klingbeil ja durchaus nach dem Außenamt greifen können – das für Willy Brandt die Startrampe für die eigene Kanzlerschaft war. War es ein Fehler, aus innenpolitischen Gründen auf die Funktion des Kassenwarts zu gehen?
Dohnanyi: Wenn Klingbeil das getan hätte, wäre das meiner Meinung nach nur mit einer anderen Außenpolitik sinnvoll gewesen. Die Außenpolitik müsste auf zwei Beinen stehen: auf dem der Sicherheit – also Rüstung und Aufbau einer Wehrfähigkeit, wie sie noch immer nicht in vollem Umfang besteht – und auf dem Versuch einer Sicherheitspolitik, die in Diplomatie, Interessenausgleich und so weiter besteht. Das ganze Erbe von Willy Brandt ist verraten worden – und zwar auch schon in der Zeit von Olaf Scholz.
The Pioneer: Scholz weiß, was auch Sie über Außenpolitik wissen, und er hat keinen einzigen veritablen Anlauf unternommen, um einen Gegenstrich zu den Wünschen aus Washington nach einem Regime-Change in Moskau zu versuchen.
Dohnanyi: Ich finde, dass darin das große Versagen der SPD liegt. Die Partei hat ihre große Kraft immer aus zwei Wurzeln gezogen: Sozialpolitik und Friedenspolitik. Diesen friedenspolitischen Teil der SPD hat man verraten. Man hätte vielleicht – insbesondere in der Zeit von Frau Angela Merkel – noch mehr rüsten müssen. Das mag sein, davon verstehe ich zu wenig. Aber die Notwendigkeit, dass man Rüstung mit dem Gespräch mit der anderen Seite verbindet – darauf darf man nie verzichten. Man hat sich in diese antirussische Politik einwickeln lassen, die nach meiner Meinung für den Frieden in Europa nicht nützlich war.
The Pioneer: Würden Sie dem neuen Kanzler raten, sich auf die Entspannungspolitik von Brandt und Helmut Kohl zu besinnen und sich nicht ins Boxhorn jagen zu lassen?
Dohnanyi: Hauptsächlich würde ich ihn dazu ermuntern, den Ausbau diplomatischer Beziehungen zu Russland voranzutreiben. Soweit ich weiß, ist der deutsche Botschafter in Moskau, den wir heute haben – Alexander Graf Lambsdorff – ein ausgemachter Russlandfeind. Ob ich den da hinsetzen würde – da habe ich meine Zweifel.
The Pioneer: Haben Sie eine bessere Nominierung im Kopf?
Dohnanyi: Das nicht, aber es gibt kluge Leute, die man eventuell dafür gewinnen könnte. Die USA hatten große Botschafter wie William Burns, den späteren CIA-Chef von Biden. An diese Tradition müssen wir wieder anknüpfen.
The Pioneer: Nun sagen viele der heutigen Politiker, dass das ein naives und vielleicht auch romantisch verklärtes Bild auf Putin ist. Die Situation habe sich geändert – mit Gesprächen sei der Mann nicht mehr erreichbar.
Dohnanyi: Eines ist absolut sicher: Wenn man nicht die besten Leute in der Diplomatie mit Russland einsetzt, dann wird man nicht erfolgreich sein.
The Pioneer: Also keine Simplifizierung des Gegenübers, sondern den langen Atem von Diplomatie wirken lassen – mit ungewissem Ausgang?
Willy Brandt und Klaus von Dohnanyi, 1982. © ImagoDohnanyi: Ja, aller Ausgang im Leben ist ungewiss. Das wissen wir doch. Ich habe Willy Brandt eine große Strecke lang begleitet in seiner Arbeit – und auch bei ihm hat es Stunden der Verzweiflung gegeben, in denen er dachte, dass er im Gespräch mit der Sowjetunion nicht dahin kommt, wo er hinkommen wollte. Und am Ende seiner Politik stand, wenn Sie so wollen, auch Michail Gorbatschow. Es entstand ein Vertrauen auf russischer Seite, dass man mit diesem Deutschland auch wirklich reden und umgehen konnte. Die neue Bundesregierung muss begreifen, dass ihre Aufgabe nicht darin besteht, den heutigen Status quo zu verteidigen, sondern darin, ihn zu verändern.
The Pioneer: Sie haben den Zweiten Weltkrieg erlebt, zum Kriegsbeginn waren Sie zehn Jahre alt. Stehen wir am Beginn einer neuen Phase von Verständigung oder stehen wir am Beginn einer kriegerischen Situation in Gesamteuropa?
Dohnanyi: Es muss keinen großen Krieg geben. Es gibt Möglichkeiten, die Interessen abzugleichen und auch wieder zu einer Verständigung – auch mit Russland und auch mit China – zu kommen. Aber wenn man unbedingt recht behalten will, die Interessen der anderen Seite einem egal sind und diese andere Seite sowieso unrecht hat und böse ist – dann wird man möglicherweise auch um einen Krieg nicht herumkommen.
The Pioneer: Herr von Dohnanyi, vielen Dank für das Gespräch.