The Pioneer: In letzter Zeit hört man immer wieder, dass wir in „Weimarer Verhältnissen“ leben – manche widersprechen dem, manche sagen, dass wir zumindest in der Nähe dessen sind. Als Historiker haben Sie sich gerade mit dieser Episode der deutschen Geschichte sehr eng befasst: Finden Sie diesen Vergleich berechtigt?
Oliver Hilmes: Ich kann das Bedürfnis nach Vergleichen sehr gut nachvollziehen, besonders, wenn man sich über etwas aufregt, empört, besorgt ist oder sich freut. Das ist menschlich. Wenn ich mir das Wirken der AfD im Bundestag oder in den Landtagen anschaue, dann kann das schon an die Weimarer Verhältnisse erinnern – mit den teilweise hasserfüllten Reden oder dem Verächtlichmachen des politischen Gegners, dem Johlen und Feixen in den Zwischenrufen, was eine Entgrenzung von Sprache ist, und der Drang nach Systemüberwindung. Niemand von uns hat die Weimarer Zeit erlebt, das heißt, wir vergleichen etwas, das wir aus zweiter, dritter, vierter Hand glauben zu kennen. Aber diese Vergleiche sind umso erfolgreicher, je ungenauer man hinschaut.
The Pioneer: Das heißt, Sie sehen mit dem Feixen und dem Hass, der in die Parlamente getragen wird, schon eine Art atmosphärische Parallelität? Wo hören die Parallelen dann auf?
Hilmes: Dieses Verlassen des politischen Konsenses und die Verächtlichmachung des politischen Gegners ist, glaube ich, schon eine neue Dimension, die die AfD in den Diskurs gebracht hat. Der große Unterschied liegt aber in der Struktur, die die Bundesrepublik Deutschland hat: Die Weimarer Republik hat knapp 14 Jahre existiert, die Bundesrepublik hingegen gibt es seit 75 Jahren. Sie hat diverse Krisen überstanden und ist ein gefestigtes politisches System – das war die Weimarer Republik nicht. Das Grundproblem war, dass es keine demokratische Tradition und Erzählung gab, die bei der Gründung gewirkt hätte. In der Bundesrepublik gab es diesen Gründungsmythos, der sich in den ersten Jahren als Wirtschaftswunder dokumentiert hat. Die Bundesrepublik hat es geschafft, die Bevölkerung über die Schaffung von Wohlstand für die neue Staatsform und Regierung zu begeistern und für sich zu gewinnen.
1948 in München: Endlich wieder volle Regale. © imagoThe Pioneer: Das Wirtschaftswunder liegt aber lange zurück, und man kann beobachten, dass immer wieder hervorgehoben wird, Deutschland habe kein Narrativ mehr, keine Erzählung von sich und keinen positiven Blick in die Zukunft, sondern viel altes Management.
Hilmes: Das mag sein, aber die Strukturen sind trotzdem anders. Die letzten zwei Jahre der Weimarer Republik waren schon keine lupenreine Demokratie mehr, sie hatte keine Chance – im Gegensatz zur Bundesrepublik, die seit 75 Jahren ihre Chance nutzt. Dass dieser Gründungsmythos jetzt nicht mehr präsent ist, ist eine andere Frage. Aber damals war das so, und nur so konnte das Land so erfolgreich werden und sich die Demokratie als Staatsform etablieren. Wir haben eigentlich eine gefestigte, politische Mitte, die es in der Weimarer Republik nie gab. Da gab es politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Eliten, die die Republik und die Demokratie verachtet haben. Nach dem Tod Friedrich Eberts 1925 wurde Paul von Hindenburg der zweite Reichspräsident der Weimarer Republik – ein Mann, der die demokratische Regierungsform und die liberale Gesellschaft abgelehnt hat. So etwas wäre heute unvorstellbar.
The Pioneer: Demnächst sind Wahlen in Sachsen-Anhalt. Angenommen, dort oder woanders käme ein AfD-Politiker, eine Person wie zum Beispiel Björn Höcke, in eine Landesregierung – was ist dann der Unterschied? Auch lässt sich eine Ablehnung der Idee von Demokratie, von Rechtsstaatlichkeit und insbesondere der liberalen Lebensform erkennen.
Hilmes: Sie haben aber ein Stichwort geliefert, das ganz interessant ist: Vielleicht ist die liberale Gesellschaft heute gefährdeter als die Demokratie. Manchmal habe ich den Eindruck, dass die AfD eher ein Modell nach Viktor Orbán anstrebt, also nicht die Abschaffung der Demokratie, sondern den Aufbau einer illiberalen Demokratie. Dass es sich nach einem Wahlsieg der AfD in diese Richtung entwickeln könnte, ist natürlich nicht ausgeschlossen.
The Pioneer: Als es eben um die demokratisch gefestigte Mitte ging, die es zu Beginn der Bundesrepublik – in der Abgrenzung zur Weimarer Republik – gab, sagten Sie, dass es sie eigentlich bis heute noch gibt. Warum eigentlich?
Hilmes: Weil man in den vergangenen Monaten – und auch schon in der Ampelkoalition – manchmal das Gefühl hatte, dass sich Parteien immer schwerer tun, sich zusammenzuraufen. Aber es hat funktioniert, und das ist eben der große Unterschied. Die Bundesrepublik Deutschland ist eine Verhandlungsdemokratie, das heißt, im Bundestag werden Ergebnisse erzielt, die unterschiedlichste Parteien miteinander verhandelt haben. Und das war in der Weimarer Republik nicht durchgehend der Fall, zum Ende hin gar nicht. Da ist die letzte Weimarer demokratische Regierung unter dem SPD-Reichskanzler Hermann Müller gescheitert, weil man sich nicht darauf einigen konnte, die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung um 0,5 Prozent zu erhöhen.
The Pioneer: Was war die unmittelbare Folge daraus?
Paul von Hindenburg und Adolf Hitler, 1933. © imagoHilmes: Man kam einfach nicht mehr zueinander. Die SPD hat dann 1930 dazu beigetragen, dass es Neuwahlen gab, aus denen die NSDAP, die vorher eine Splitter-Patei und eigentlich unbedeutend war, mit einem erdrutschartigen Sieg hervorgegangen ist.
The Pioneer: Welche Unterschiede gibt es noch, die einen Vergleich erschweren?
Hyperinflation: Geldscheine werden als Brennmaterial im Ofen verfeuert. © imagoHilmes: Es gab vor allem große wirtschaftliche Krisen, die das Land zu überstehen hatte. Die Erfolgsserie Babylon Berlin vermittelt den Eindruck, dass Berlin die ganze Zeit im Kokainrausch getanzt hat, mit viel Champagner und queeren Lebensformen. Das ist natürlich eine übertriebene Stilisierung, die mit der Realität nicht viel zu tun hat. Wenn wir über die goldenen Zwanziger reden, dann meinen wir einen Zeitraum zwischen 1924 und 1929, also fünf Jahre. Vor 1924 gab es eine Hyperinflation, in der das Land am Boden lag, nach 1929 gab es wieder eine Weltwirtschaftskrise.
Anfang 1930 hat sich die Weimarer Republik zu einer Präsidialdemokratie gewandelt: Der Reichskanzler Heinrich Brüning, ein heute sehr umstrittener Mann, hat mit Notverordnungen regiert. Er steckte mit Reichspräsident Paul von Hindenburg, salopp formuliert, unter einer Decke und konnte so bestimmte Dinge per Dekret gegen eine Mehrheit im Reichstag durchsetzen. Das ist heute unvorstellbar. Unser Bundespräsident hat gegenwärtig fast nur eine notarielle Funktion.
The Pioneer: Wenn man aber auf andere Staaten – etwa die Türkei – blickt, sieht man, wie schnell ein System geändert werden kann und der Präsident, der vorher auch dort nur notarielle und repräsentative Aufgaben hatte, ganz plötzlich der erste Mann im Staat ist.
Hilmes: Ich kann diese Empörung, die in dieser ominösen Bundestagsdebatte vor einigen Monaten, nachdem Friedrich Merz – wie ich finde – den Fehler begangen hat, eine Abstimmung mithilfe der AfD zu gewinnen, verstehen. Aber diese Empörung kann ich als Historiker nicht wirklich gut heißen. Empörung ist immer ein schlechter Ratgeber, vor allem, wenn danach nichts folgt. Wenn Rolf Mützenich, der damalige SPD-Fraktionsvorsitzende, davon spricht, dass das „Tor zur Hölle“ geöffnet worden sei, dann sagt der Berliner: „Haste dit ooch ‘ne Nummer kleener?“. Es ist unverhältnismäßig, weil die Leute das „Tor zur Hölle“ schon vor vielen Jahrzehnten durchschritten haben und sie ganz andere Sachen erleben mussten. Die Entrüstung ist emotional nachvollziehbar, aber sie führt zu nichts und ist politisch unklug. Man muss sich natürlich überlegen, wie man die AfD wieder loswird und sich über den richtigen Weg streiten. Aber die Entrüstung ist etwas für die Kameras.
The Pioneer: Wir Journalisten werden häufig mit der Frage konfrontiert, warum wir jemand Bestimmten eingeladen oder ihm eine Bühne gegeben haben – unabhängig davon, dass diese Menschen ohnehin ihre Bühnen haben. Aber in dem Fernhalten dieser Menschen steckt auch eine Mystifizierung zu Dämonen, die ihnen sogar guttut. Denn erst wenn man sie sprechen hört, merkt man, dass sie keine dämonischen Masterminds sind – sondern zum Teil ganz klein.
Hilmes: Ja, diese Leute offenbaren sich selbst schon, indem sie den Mund aufmachen und auf die meisten Fragen sowieso keine Antworten haben – bis auf Schuldzuweisungen und lächerliche Erzählungen. Die AfD zieht ihre Kraft aus der Angst der Menschen, und wenn man diese Angst dauernd heraufbeschwört, fächert man der AfD den Wind zu, den sie braucht. Ich bin Gott sei Dank kein Politiker und muss mir keine Gedanken machen, wie man der AfD das Wasser abgräbt. Aber dass das geschehen muss, darüber sind sich alle demokratischen Parteien im Bundestag einig. Aber man muss es eben machen.
AfD-Fraktionschefin Alice Weidel © ImagoThe Pioneer: Sie sind also kein großer Verfechter der Idee „History Repeats Itself“?
Hilmes: Wenn man aus der Vogelperspektive draufschaut, sagt man oft, dass etwas „so wie damals“ ist. Aber je weiter man reinzoomt und je kleinteiliger es wird, desto stärker wird einem bewusst, dass es große Unterschiede gibt und man nicht sagen kann, dass wir vor Weimarer Verhältnissen stehen.
The Pioneer: Würden Sie denn sagen, dass wir in außergewöhnlichen Zeiten leben, die in besonderer Weise von Krisen gekennzeichnet sind? Wie sehen Sie das als Historiker?
Hilmes: Die Menschen nehmen Verschiebungen schon wahr, das zeigt sich dann in ganz verschiedenen Dimensionen. Im Fin de Siècle, der Zeit vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs, haben die Leute gerade in der Kultur dieses Aufbrechen der alten Welt ganz stark empfunden und verarbeitet. Und ich glaube, dass wir auch heute in außergewöhnlichen Zeiten leben, weil sich bestimmte Gewissheiten geändert haben. Wir haben in den letzten Jahrzehnten in der Gewissheit gelebt, dass wir mit den Vereinigten Staaten von Amerika einen Partner haben, der für uns einsteht, wenn es drauf ankommt. Das haben die einzelnen amerikanischen Präsidenten vielleicht in Nuancen mal anders bewertet, aber jetzt haben wir Donald Trump, der das infrage stellt, der immer wieder mit dem Austritt aus der Nato kokettiert und damit, dass die Nato eigentlich obsolet sei. Natürlich fragt man sich dann, welche Gewissheit es eigentlich noch gibt. Aber das war vor hundert Jahren auch schon so.
The Pioneer: „Die alte Welt ist untergegangen, die neue noch nicht geboren. Es ist die Zeit der Monster.“ An dieses Zitat von Antonio Gramsci kann man zurzeit häufig denken. Vielen Dank für das Gespräch, Oliver Hilmes.