Interview

„Es gab nichts mehr, was diese Tür noch hätte offen halten können“

Familie kann man sich nicht aussuchen – was tun, wenn grundlegende Wertvorstellungen auseinandergehen? Aktivistin Leonie Plaar hat sich von ihren Eltern und engen Verwandten abgewandt, weil diese in der AfD aktiv sind. Wie es zu diesem Schritt kam, erzählt sie im Achten Tag mit Alev Doğan.
Alev Doğan
20.09.2025
© The Pioneer
© The Pioneer

The Pioneer: Frau Plaar, Sie haben sich von Ihrer Familie erst entfremdet und dann den Kontakt abgebrochen, weil sie die AfD nicht nur wählt, sondern auch in der Partei aktiv ist. Mit wem aus Ihrer Familie haben Sie noch Kontakt?

Leonie Plaar: Ich habe eigentlich nur noch Kontakt zu meiner Mutter, sehr vorsichtig und sporadisch. Sie ist die einzige, die nicht Parteimitglied ist – aber die dennoch mit meinem Erzeuger verheiratet ist.

Sie sprechen von „Erzeuger“ und nicht von „Vater“. Seit wann?

Ich weiß nicht mehr, wann genau, aber schon mein Opa hat so über seinen Vater gesprochen (weil dieser Mitglied in der NSDAP war und vermutlich die Nazi-Ideologie unterstützte, Anm. d. Red.). Für mich gibt es einen Unterschied zwischen dem Menschen, von dem ich abstamme, und dem Menschen, bei dem ich Schutz finde. Diese beiden Begriffe beschreiben die unterschiedlichen Rollen, die dieser Mensch in meinem Leben ausfüllt.

Wie begann die Verbindung zwischen der AfD und Ihrer Familie?

Irgendwann kam mein Erzeuger mit Flyern nach Hause und sagte, dass es da eine neue Partei gibt, die sich ganz neu gegründet hat, die aus dem Euro raus will und die von Professoren, die wirklich Ahnung haben, getragen wird. Das war das Image, dass sich die Partei 2013 versucht hat aufzubauen. So bin ich damit das erste Mal über genau den Menschen, von dem ich wegen dieser Partei entfremdet bin, in Berührung gekommen.

Wie hat sich das entwickelt?

Am Anfang bin ich ein bisschen mitgeschwommen. Ich war zu der Zeit selbst in einer Lebensphase, in der ich versucht habe, irgendwie reinzupassen und nicht mehr aufzufallen. Ich habe meine sexuelle Orientierung vor mir selbst verleugnet und wollte einfach nur dazugehören, damals war ich im Jurastudium.

Gab es einen bestimmten Anlass, der dieses Mitschwimmen gestoppt hat?

Nach ein paar Wochen bekam ich eine Nachricht von einer jungen schwarzen Frau aus meinem Bekanntenkreis, die sehr gut aufgezeigt hat, welche Gefahren schon zu diesem Zeitpunkt in der Partei geschlummert haben. Ich bin erst in eine Defensivhaltung gegangen, wie einem das als weiße Frau gerne mal passiert, wenn man auf rassistische Dinge angesprochen wird. Aber ihre Worte haben in mir weitergearbeitet und in den kommenden Tagen und Wochen sah ich die Punkte, die sie aufgezeigt hat. Daraufhin habe ich mich schnell davon entfernt. Ich habe die Inhalte vorher ohnehin nicht mit Überzeugung mitgetragen, aber damals wollte ich gefallen und dazugehören. Deswegen nickte ich erst mal alles ab, was mir erzählt wurde und habe auswendig gelernt, was mir über diese Partei erzählt wurde.

Was hat die Nachricht Ihrer Bekannten bei Ihnen in Gang gesetzt?

Ich bin ihr bis heute unendlich dankbar. Ich habe damals so defensiv reagiert, weil ich mich als privilegierte weiße 18-jährige noch nicht wirklich mit Rassismus auseinandergesetzt habe. Aber das hat irgendwas bei mir ausgelöst und mir beigebracht, wie wir unsere Meinungen lieber im Stillen ändern.

Was haben diese Familienmitglieder vorher politisch gewählt oder gedacht?

Es war eine alteingesessene CDU-Familie, ganz klassischer Mittelstand mit familiärem Einzelhandelsbetrieb in einer Kleinstadt. Uns ging es schon ganz gut.

Worin bestand dann die Euphorie bezüglich dieser neu gegründeten Partei?

Da hat sich zum einen politische Frustration aufgestaut. Sicherlich war es auch die Begeisterung für das Neue und dass man sich in einer kleineren neuen Partei auch eher gehört und gesehen fühlt. Viel hing aber auch damit zusammen, dass man sich nicht weiter bewegen wollte. 2013 und vor allem 2015, während der sogenannten Flüchtlingskrise und später der Legalisierung der gleichgeschlechtliche Ehe, war es eine Zeit des sozialen Umbruchs. Rückblickend würde ich sagen, dass man erstmals ein etwas besseres Verständnis dafür entwickelte, dass Fluchtursachen ein bisschen komplexer sind und die einfachen Schlagworte auf den Plakaten eben nicht mehr zutreffen. Und da konnte man entweder mitgehen und sich weiterentwickeln – oder man hat an seinen politischen Überzeugungen festgehalten. Es ist ja nicht so, als hätte die AfD damals etwas völlig Neues gemacht oder als wäre der Rassismus neu gewesen.

Haben Sie versucht, mit den Ihnen nahestehenden Parteimitgliedern zu sprechen? Darüber, dass dies keine liberal-demokratische Partei ist?

Etwa ein halbes Jahr nach der Gründung der AfD war die Bundestagswahl 2013, bei der sie die Fünf-Prozent-Hürde knapp verfehlt hat. Ich selbst habe zu diesem Zeitpunkt schon meine Meinung geändert und das Kreuz nicht bei der AfD gemacht. Das habe ich aber niemandem gesagt. Ich habe mich so unfassbar geschämt. Vielleicht ist Scham das falsche Wort, aber ich hatte ein schlechtes Gewissen meiner Verwandtschaft gegenüber, weil es eine große Enttäuschung darüber gab, dass man an dieser Hürde gescheitert ist. Ich hatte das Gefühl, dass es meine Schuld war. In den Wochen danach ging es mir nicht gut. Es entwickelte sich immer weiter auseinander, schließlich bin ich zu Hause ausgezogen und habe räumlichen Abstand zu dieser Thematik bekommen, war mehr von Menschen umgeben, die unterschiedliche Sichtweisen auf Politik und das Leben generell hatten. Es dauerte auch nicht mehr lange, bis ich mich komplett abgespalten habe.

Weil Sie das Gefühl hatten, dass Ihre Familie sich radikalisiert?

Auf jeden Fall. Spätestens mit der Corona-Pandemie war es eine massive Radikalisierung. Die Rhetorik wurde immer schärfer, es ging nicht mehr nur um abstrakte politische Konzepte, sondern nur noch um die – ob Geflüchtete, queere Menschen oder auch Frauen – es wurde irgendwann sehr klar in Gruppen gedacht. Und die Gruppen waren immer irgendwie anders als man selbst. Und dadurch wurden sie zum Feindbild.

Wie lange haben Sie noch versucht, im Dialog zu bleiben?

Beim letzten Gespräch mit meinem Erzeuger im Sommer vor drei Jahren. Da wusste ich eigentlich schon, dass das wahrscheinlich das letzte Gespräch sein wird. Die Tür stand bis zuletzt offen – und ich würde nicht mal sagen, dass ich sie zugemacht habe. Es gab einfach nichts mehr, was diese Tür noch hätte offen halten können. Er sagte mir, dass er die Partei wählt, die seine finanziellen Interessen am besten vertritt – obwohl sie meine Sicherheit, also die seiner Tochter, bedroht und deren Mitglieder und Unterstützer schon ziemlich konkrete Drohungen geschickt haben, weil ich da schon eine gewisse Öffentlichkeit hatte. Wenn meine Sicherheit seinen finanziellen Interessen gegenübersteht und ich den kürzeren ziehe – dann hat das für mich nichts mehr mit Familie zu tun.

Was haben Sie in diesem Moment gefühlt?

Ich war erleichtert, weil ich das in gewisser Weise schon geahnt habe. Es war der Tiefpunkt jahrelanger Diskussionen. Ich musste das einmal laut ausgesprochen hören, damit ich einen Abschluss finden konnte und ich mir selber nicht vorwerfen lassen muss, dass ich der Sache nicht noch mal die Chance gegeben hätte.

Was für Bedrohungen waren das, die Sie bekommen haben?

Ich wurde bedroht, weil ich als queere Frau im Internet existiere. Sexismus, Misogynie und Queerfeindlichkeit, je nachdem. Teilweise waren es Parteimitglieder, meist auf lokaler Ebene. Man findet ja recht schnell Hinweise auf die Gesinnung, etwa, weil sie Kacheln auf Instagram teilen oder es in ihrer Bio erwähnen. Er sagte dann, dass das Einzelfälle waren beziehungsweise kein Abbild der Partei – Ich könne ja gar nicht wissen, ob die wirklich AfD wählen oder ob das Mitglieder sind. Oft ging es auch in die Richtung, dass ich einfach zu empfindlich wäre, und dass ich nicht über jedes Stöckchen springen müsste, dass mir da hingehalten wird. Wobei ich finde, dass man bei ganz konkreten, justiziablen Vergewaltigungs- und Morddrohungen nicht zu empfindlich sein kann.

Vermissen Sie Ihre Familie?

Schwer zu beantworten… Ja, ich vermisse meine Familie. Aber die habe ich auch schon vermisst, bevor ich den Kontakt abgebrochen habe.

Was, glauben Sie, treibt die Menschen zur AfD?

Wenn es darauf die eine Antwort gäbe, dann wären wir der Lösung des Problems schon einen ganzen Schritt näher. Ich glaube, bei meiner Familie war es die anfängliche Euphorie, von der sie sich haben anstecken lassen, woraufhin sie sich mit dieser Partei weiter radikalisiert haben. Heute holt die Partei die Menschen auch an anderen Stellen ab.

An welchen?

Sicherlich bei der Sozialpolitik. Die AfD oder in der AfD aktive Menschen sagen ja selber: je schlechter es Deutschland geht, umso besser für die AfD. Wo Armut und Angst herrschen, lässt sich mit negativen Gefühlen Politik machen. Wenn wir für Probleme nur einen Schuldigen anbieten müssen, aber keine Lösung – das lässt sich aus der Opposition heraus natürlich immer leicht machen. Der große Vorteil, den diese Partei ja bisher hat, ist, dass sie ohne Regierungsverantwortung nie beweisen musste, welche Lösung sie auf komplexe Probleme hat; das soll natürlich nicht heißen, dass man sie einfach mal ans Ruder lassen soll.

Was kann man aus Ihrer Sicht von der anderen Seite aus tun, um eine Radikalisierung nicht zuzulassen?

Als Historikerin – und auch aus der Sicht von Politikwissenschaftlern und Soziologinnen – ist das beste Mittel gegen Rechtsextremismus eine gute Sozialpolitik. Wo es den Menschen gut geht, sucht man nicht nach Schuldigen. Schon lange vor der Gründung der AfD haben wir gesehen, dass in den Regionen, in denen wir keine gute Sozialpolitik gemacht haben, die Rechten erstarken.

Aber wenn ich das richtig verstehe, war Ihre Familie nicht auf gute Sozialpolitik angewiesen.

Absolut nicht. Viel davon ist aber auch Statusangst, die prinzipiell jeden treffen kann – „mir geht's ja eigentlich ganz gut, aber da ist jemand, der mir das wegnehmen will.” Und ich glaube, dass diese Partei es ganz am Anfang geschafft hat, das auch bei meiner Familie auszulösen. Gerade in der Zeit um 2015 herum hat das eine ganz große Rolle in der Radikalisierung meiner Familie gespielt. Heute hören wir sowas auch von anderen Parteien, leider.

Ob Schulen gut genug aufgestellt und wie Flüchtlingsunterkünfte verankert sind, sind berechtigte Sorgen – für beide Seiten übrigens: für die Hiesigen wie auch die Kommenden. Wurde zu wenig darüber gesprochen? Auch zu wenig gestritten?

Ich finde es ganz wichtig, im Gespräch zu bleiben – nur eben nicht mit den Menschen, die mir so nahe stehen, dass es diese persönliche Ebene gibt und es weh tut. Ich habe mich sehr lange an dem naiven Glauben festgebissen, dass ich nur das richtige Argument bringen muss, um diese Menschen zurückzukriegen. Vielleicht habe ich sogar die richtigen Worte gefunden, aber ich war die falsche Person, die sie gesagt hat. So leicht ist es eben nicht. Es ist eine Konstellation aus ganz vielen unterschiedlichen Faktoren.

Finden Sie, dass sich die liberal-demokratische Mehrheit genug um den Dialog bemüht hat oder kam es zu schnell zu einer Abkehr?

Ich weiß gar nicht, wann diese Abkehr stattgefunden haben soll, weil wir die AfD im Sommer-Interview und in allen abendlichen Talkshows sehen. Zur besten Sendezeit beschwert sie sich darüber, dass man ja nichts mehr sagen dürfe. Die AfD ist nicht mehr gleichzusetzen mit den demokratischen Parteien. Ich finde es wichtig, dass Kritik an Parteien geäußert wird, aber Rechtsextremismus eine Bühne zu bieten, verstärkt das Problem. Wir haben gerade in den letzten Jahren eine massive Normalisierung der AfD gesehen, parallel zu ihrer Radikalisierung.

Nun, das mit der Bühnen höre ich häufig, sehe es aber anders, denn Bühnen haben diese Menschen genug. Journalisten müssen mit allen sprechen, auch mit Extremisten, auch weil sie dann erst real und manchmal auch schnöde werden. Wenn Björn Höcke in einer Fernsehsendung Rede und Antwort stehen muss, schrumpft er zusammen. Andernfalls bleiben sie ein Mythos und die Dämonisierung macht sie größer, als sie manchmal sind. Aber was ist mit dem Dialog innerhalb der Gesellschaft? Bis zu welchem Punkt bleibt man im Gespräch, wann bricht man ab?

Jede Beziehung ist anders. Und jede Person, die mit dieser Partei liebäugelt, ist vielleicht an einem anderen Punkt im Leben. Die einen stehen noch auf der Kippe, die anderen haben sich schon komplett in ihren Glaubenssätzen verfestigt. Es ist immer eine Abwägung zwischen den eigenen Grenzen und dessen, was sich da noch gewinnen lässt. Ich würde niemals sagen: Brecht alle den Kontakt zu euren Verwandten ab, die in dieser Partei Mitglied sind oder sie wählen. Wenn ich aufhöre, mit der eigenen Familie zu diskutieren, heißt das nicht, dass ich mich dem Diskurs völlig entziehen sollte. Ich habe neulich einen schönen Satz gehört: Jeder von uns möchte das Dorf um sich herum haben, aber niemand möchte das Dorf für andere sein. Wenn wir alle verstehen würden, dass wir dieses Dorf füreinander sein können, dann wären wir der Lösung des Problems einen großen Schritt näher. Statt zu diskutieren, könnte man in das Jugendzentrum um die Ecke gehen und sich ehrenamtlich engagieren. Dann kann ich mit den gleichen, auch zeitlichen Ressourcen, viel mehr bewegen.

Was würden Sie tun, wenn sich Ihr Vater, Ihr Erzeuger, bei Ihnen meldet und sagt: „Ich habe Abstand zu dieser Partei gewonnen, lass uns wieder einen Kaffee trinken gehen“ ?

Ich habe da eine realistische Erwartungshaltung und weiß, dass das nicht passieren wird. Inzwischen würde das aber auch nicht reichen. Gerade mein Erzeuger, der teilweise lokalpolitisch in dieser Partei aktiv war, hat über die letzten zwölf Jahre aktiv dabei geholfen, andere Menschen von dieser Partei zu überzeugen. Sowohl an meinem Leben, als auch an unserer Demokratie in Deutschland und am Leben von marginalisierten Menschen wurde massiver Schaden angerichtet. Ich müsste also eine ehrliche Bemühung sehen, dass dieser Schaden repariert wird, wie auch immer das aussieht.

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