The Pioneer: Wir leben in einer krisenhaften Zeit, die besonders für junge und nachwachsende Generationen – im Hinblick auf Vertrauensbeziehungen – folgenreich ist. Woran erkennt man das, und welche Folgen spüren sie genau?
Studien haben festgestellt, dass die Vertrauensbereitschaft bei jungen Menschen abgenommen hat – was ein Problem ist. Wenn man kein Vertrauen in gesellschaftliche Strukturen hat, könnte man handlungsunfähig werden. Junge Menschen kompensieren das, indem sie Selbstvertrauen aufbauen – das ist auf einer individuellen Ebene sehr plausibel, allerdings führt es dazu, dass wir noch mehr vereinzeln.
Worin besteht der Unterschied zu unserer Generation?
Wir sind in einer Zeit aufgewachsen, in der die Dinge relativ stabil waren. Unser Problem ist eher, dass wir gerade merken, dass diese starke Vertrauensstruktur in der Gesellschaft brüchig wird. Für Menschen in ihren Zwanzigern ist der Krisenzustand der Normalzustand – sie haben keine Vertrauensstruktur als Ausgangsbasis. In einer Demokratie muss man aber Institutionen und Systemen vertrauen können. Was das für die Zukunft bedeutet, muss man beobachten.
Sie schreiben, dass Vertrauen insofern riskant ist, als dass man auch mit der Freiheit des Gegenübers zurechtkommen muss: Bedeutet mehr Freiheit und weniger Strukturen also auch ein Verlust von Vertrauen?
Genau. Wenn ich jemandem vertraue und die Person verhält sich dann nicht so, wie ich es erwarte, dann bin ich enttäuscht – und bereue die Entscheidung, vertraut zu haben. Ich nenne das „doppelte Freiheit“: Ich habe die Freiheit, zu vertrauen, aber der andere hat auch die Freiheit, seine eigene Entscheidung zu treffen. Je freier wir alle sind, desto schwieriger und komplexer wird es. Dann fällt es uns schwer, überhaupt zu verstehen, wem wir vertrauen können. Wenn ich viele gute Erfahrungen mit einer Person mache, dann wächst auch das Vertrauen – das bedeutet auch, dass man das künftige Verhalten der Person eher voraussehen kann und sie sich in meinem Sinne verhalten wird.
Mehr positive Erfahrungswerte stärken also das Vertrauen.
Ja. Viele klassische Soziologen, die sich mit Vertrauen beschäftigen, etwa Niklas Luhmann, fanden es dann faszinierend, dass je moderner die Gesellschaft wurde, man immer mehr Menschen vertrauen muss, die man gar nicht kennt.
Weil sich der Horizont vergrößerte und man nicht mehr nur in Familien oder dörflichen Strukturen gelebt hat?
Vor allem, weil sich Experten-Systeme etabliert haben. Alle wichtigen Aspekte der Gesellschaft, wie Wissenschaft, Medien und Recht wurden in Systemen etabliert. Man sagt ja: „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.“ Ich würde es andersherum sehen: „Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser“. Vertrauen und Kontrolle sind ja fast das Gegenteil voneinander. Ich kann beispielsweise Ihre Arbeit als Journalistin nicht kontrollieren. Ich muss vertrauen, ohne kontrollieren zu können, weil ich selbst kein Journalist bin. Das ist neu. Und bei Journalisten gehört Misstrauen zum Beruf dazu – ich muss also den misstrauischen Experten vertrauen. Auf diesem Prinzip ist unsere ganze Gesellschaft aufgebaut.
„Der 8. Tag Live“ mit Prof. Aladin El-Mafaalani auf der Pioneer Two © Pascal Behring / The PioneerIch spare ja Energie ein, wenn ich es Journalisten überlasse, kritisch über Politik zu berichten oder Richtern vertraue, richtige Urteile zu fällen. Woher kommt die Kraft, daran wieder zu rütteln?
Das so zu machen, ist zunächst hoch effizient. Aber das bedeutet auch, dass es keine Instanz in unserer Gesellschaft gibt, die alles kontrolliert. Die einzigen, die zum Beispiel meine Arbeit kontrollieren, sind andere Wissenschaftler. Wenn ein Gerichtsurteil gefällt wird, kann nur ein anderes Gericht das Urteil aufheben. Jedes System ist demnach autonom und kontrolliert sich selbst – was sinnvoll ist, weil niemand es besser kontrollieren kann. Allerdings führt es dazu, dass alles innerhalb des Systems bleibt und man davon abhängig ist, dass die Menschen dem System vertrauen. Und das hat jetzt irgendwann aufgehört.
Welche Ursachen liegen dem zugrunde?
Aus meiner Sicht ist eine zentrale Ursache, dass die Dinge so komplex geworden sind, dass die Menschen nicht mehr wahrgenommen haben, dass Vertrauen einem schwerfällt. Ich sage nur 3G: Geld, Grenzen, Gesundheit.
Kläre uns auf.
Das „G“ steht für eine der letzten drei Krisen. Zum einen die Finanzkrise: Wem vertrauen wir unser Geld an? Dann die Flüchtlingskrise 2015 und die Grenzen, die nicht mehr sicher waren. Schließlich das dritte „G“, unsere Gesundheit während der Pandemie. Wir haben gemerkt, dass die Strukturen, von denen wir dachten, dass sie stabil sind, in Wahrheit relativ fragil sind. Den meisten ist nicht bewusst, dass es keine große Kontrolle gibt, sondern dass jedes System sich selbst kontrolliert. Wenn man kein Gefühl für diese Komplexität hat, dann macht das Menschen Angst.
Ist das der Punkt, an dem Verschwörungsideologien entstehen?
Ja, es kommen dann irgendwelche Leute und decken Widersprüche auf – die es in einem komplexen System natürlicherweise gibt und deren Existenz niemand leugnet. Aber sie deuten das alles um, üben unprofessionell Kritik und reduzieren eine überkomplexe Gesellschaft auf ein Maß herunter, dass es für viele Menschen plausibel erscheint.
Die Komplexität nimmt ja eher zu, als ab, und man kann mit Fug und Recht behaupten, dass die durch demokratische Verfahren gewählte Bundesregierung mittlerweile gar nicht mehr in der Lage ist, dieses System wirklich maßgeblich zu gestalten. Wie lässt sich dann Vertrauen zurückgewinnen?
Wenn Dinge gut funktionieren, misstrauen Menschen nicht, selbst wenn es dafür gute Gründe gäbe. Auf einer Internetseite klicken wir auf „okay“ und geben unser Einverständnis, dass unsere Daten verwendet werden dürfen. Das ist ein guter Hinweis darauf, wie man Vertrauen zurückgewinnen kann: Wenn Dinge gut funktionieren und sie mich zufrieden machen, dann unterschätze ich oft Risiken – aber so lange die Vorteile überwiegen, ist es einem egal. Wenn nun der Staat nicht mehr richtig funktioniert, dann ist das ein guter Grund für Vertrauensverlust.
Eine Infografik mit dem Titel: Staat verliert Vertrauen
Umfrage: In welche Institutionen vertrauen Sie?
Es ist also nicht nur die gesteigerte Komplexität, sondern auch das gefühlte und zum Teil reale Nicht-mehr-funktionieren von Staatlichkeit.
Zum einen mischt sich der Staat sehr stark in Dinge ein, in die er sich nicht einmischen müsste. Ich nenne das „Verrechtlichung des sozialen Lebens“: Alles wird kontrolliert, wir müssen dokumentieren und Berichtspflichten nachgehen – weil der Staat misstrauisch ist. Dadurch überfordert er sich aber. Zum anderen sind da Dinge, die er eigentlich machen müsste: Für äußere Sicherheit, digitale Infrastruktur und Bildung sorgen, sich darum kümmern, dass die Bahn fährt. Da, wo er zu Recht Monopolist ist, vernachlässigt der Staat die Aufgaben – und da, wo er es nicht machen müsste, mischt er sich stark ein. Diese Verrechtlichung führt dazu, dass Vertrauen nicht mehr notwendig ist. Und das ist gefährlich. Der Staat hat die Dinge komplizierter gemacht, als sie sein müssten – statt zu erleichtern.
Führt die Zunahme an Verrechtlichung von Bereichen, die diese nicht bräuchten, wiederum zu mehr Misstrauen in den anderen?
Wir haben die Erwartung, dass der Staat wichtige Dinge regeln soll und werden enttäuscht, ebenso in Bereichen, in die er sich gar nicht einmischen müsste – deshalb geht Vertrauen verloren. Das Problem ist: Wenn der Staat als handlungsunfähig wahrgenommen wird, dann übertragen die Menschen das direkt auf die liberale Demokratie. Verlust an Vertrauen in den Staat ist Verlust an Vertrauen in die Demokratie – deswegen ist das so verheerend. Aus diesem Grund habe ich mich für die „Initiative für einen handlungsfähigen Staat“ engagiert. Man kann zwar schon was tun, aber es gibt da noch ein schlimmeres Problem.
Was für eins?
Wir haben bereits darüber gesprochen, dass die Autonomie der einzelnen Systeme der Grund ist, warum sie so effizient sind. Nun gibt es so große Herausforderungen, dass einzelne Systeme kooperieren müssen, um sie zu lösen: Am schlimmsten ist es beim Klimawandel. Weder die freie Wirtschaft, die Wissenschaft, noch die Politik sind in der Lage, den Klimawandel allein aufzulösen. Man würde es nur hinbekommen, wenn wir alle gemeinsam daran arbeiten, auch international. Wenn wir eine Regierung wählen, denken wir, dass sie dieses Problem regeln kann – aber das ist nicht möglich. Wir müssen also die Autonomie der einzelnen Systeme, zumindest punktuell, etwas abschwächen, um Dinge in den Griff zu bekommen. Ein Punkt, woran man das erkennt, ist, dass es immer mehr Expertenräte gibt.
Dazu haben wir kürzlich eine große Cover Story veröffentlicht, „Die Räte-Republik“: Immer mehr wissenschaftliche Beiräte, Kommissionen etc. arbeiten nicht nur für die Regierung, sondern für jedes einzelne Ministerium.
So ist es. Bisher funktioniert das nicht gut, aber es zeigt, dass die Ministerien mittlerweile wissen, dass sie mit dem, was sie alleine können, kein Problem adäquat verstehen können. Deswegen ist eine Demokratie abhängig davon, dass es Expertenanhörungen gibt.
Aber widerspricht es nicht der Diagnose, dass alles zu komplex geworden ist?
Wir haben als Gesellschaft Komplexität immer nur mit Komplexität bearbeitet – das hat sehr effiziente Strukturen geschaffen. Allerdings könnte es hypothetisch sein – im Buch deute ich das an – dass es irgendwann einen Kipppunkt geben kann und die Komplexität so groß sein wird, dass nichts mehr geht. Es kann aber auch sein, dass die Komplexität kein Ende hat. Ich weiß nur, dass Menschen, etwa im Hinblick auf Geschwindigkeit und inhaltliche Komplexität, mit immer differenzierteren Funktionssystemen reagieren. Unsere Kapazität ist aber beschränkt: Irgendwann verstehen wir es nicht mehr, und wenn wir etwas nicht verstehen, bekommen wir Angst. Und wenn wir Angst haben, bekämpfen wir vielleicht das System.
Studien legen nahe, dass der Hang zum Populismus auch unabhängig von ökonomischen oder anderen Ungleichheitsfaktoren besteht. Es sind also nicht nur die „Abgehängten", wie es häufig heißt. Was macht einen anfällig dafür, dem System nicht mehr zu vertrauen?
Zum einen, dass die Dinge eben nicht funktionieren. Zum anderen etwas, was viele „Identitätsbedrohung“ nennen: Das, was mir wichtig ist, wird entwertet. Wenn ich etwa ein konservatives Familienbild habe und feststelle, dass in einer komplexeren Gesellschaft alle Möglichkeiten von Familie relativ gleichwertig sind und Geschlechterrollen sich verschieben. Der dritte Punkt betrifft Entfremdung.
Was bedeutet Entfremdung eigentlich genau?
Entfremdung ist quasi das Gegenteil von Heimatgefühl. So drückt sich Komplexität bei Menschen aus: man fühlt, dass man selbst und das Umfeld nicht mehr richtig zusammenpasst.
Ist die „Stadtbild“-Aussage von Friedrich Merz ein Symptom dessen?
Das spielt auf jeden Fall darauf an, kann aber auch auf andere Aspekte bezogen werden. Unsere Wahrnehmung auf ältere Menschen hat sich beispielsweise auch verändert: Wenn sie einem früher eher Orientierung geben konnten, weil man davon ausging, dass sie weiser sind als wir, dann hat sich das durch Digitalisierung geändert. Junge Menschen gehen tendenziell davon aus, dass ältere überhaupt keinen Überblick mehr haben. Auch das kann zu Entfremdungsgefühlen führen, ebenso die Emanzipation von Frauen und Gleichberechtigung. Ich verstehe, dass „klassische“ Identitäten sich bedrückt fühlen – gleichzeitig kann man das auch als Errungenschaft verstehen. Entfremdung ist der Preis dafür, dass es Fortschritt gab. Der Erste, der die Entfremdung als Begriff verwendet hat, war Karl Marx: In einer kapitalistischen Gesellschaft – den er als Fortschritt verstanden – entfremdet sich der Arbeiter immer mehr vom Endprodukt.
Wenn es diese Entfremdung also schon vorher gab, warum ist es dann jetzt so ein großes Problem?
Die Stärke unserer Gesellschaft war immer, dass die Dinge funktioniert haben. Wenn nun aber die Probleme zunehmen, dann hat man eine Legitimationskrise – und es bilden sich „Misstrauensgemeinschaften“. Das ist eine Bedrohung für die Gesellschaft als Ganzes. Diejenigen, die misstrauen, sind jetzt durch digitale Medien verbunden und bilden eine Gemeinschaft, die sich dadurch auszeichnet, dass sie anders funktioniert als die Systeme. Gemeinschaften beurteilen sich nicht nach Erfolg…
Sondern nach Zugehörigkeit…
Oder ihre Absicht. Wenn ein Populist an die Regierung kommt, wird er von den Leuten, die sich der Gemeinschaft zugehörig fühlen, nicht danach beurteilt, ob er erfolgreich war, sondern daran, ob er zu ihnen gehört. Bei Donald Trump etwa ist es erstaunlich, dass er bei seinem Verhalten so wenig Rückhalt verliert. Es gibt dabei eine wichtige Unterscheidung.
Welche?
Es gibt Menschen, die aus guten Gründen misstrauen, weil sie das System verbessern wollen – ich nenne das „konstruktives Misstrauen“. Dann gibt es „destruktives Misstrauen“, also diejenigen, die das System kaputt machen wollen. Aus denen bestehen diese Misstrauensgemeinschaften. Sie werden nie von nur aufgrund von rationalen Gründen oder Erfolgskriterien von ihrer Haltung abweichen.
Kann es sein, dass diese Unterscheidung zwischen konstruktivem und destruktivem Misstrauen während der Corona-Pandemie nicht immer adäquat gelungen ist, vor allem in den Medien, wo Kritiker der Maßnahmen nicht von Verschwörungsideologen abgegrenzt wurden?
Ja, dieser Unterschied gelingt kaum. Und ich sehe auch nicht die Möglichkeit, dass das gelingt, wenn wir nicht Dinge verändern.
Wie kommen wir aus diesem Misstrauens-Debakel wieder raus?
Man muss einmal akzeptieren, dass es gute Gründe für Misstrauen gibt. Die Populisten würde ich einfach ignorieren und eher die guten Gründe adressieren.
Das behauptet die Politik auch immer, dass der Staat wieder handlungsfähiger gemacht werden muss. Aber es funktioniert ja trotzdem nicht.
Wir müssen uns in erster Linie alle klar machen, dass wir etwas ändern müssen. Alle. Die Öffentlichkeit hat aufgrund der hohen Komplexität das Bedürfnis, Dinge besser zu verstehen, um wieder vertrauen zu können. Ein Beispiel: Wenn sich online jeder für einen Finanzexperten hält und Empfehlungen gibt, müssen die Menschen selber entscheiden, wem sie vertrauen. Dann vertrauen sie vielleicht dem Falschen, weil er gar kein Experte des Systems ist – misstrauen dann aber dem ganzen System. Das ist auch eine Schwäche im Journalismus, in der Wissenschaft und aller Expertensysteme.
Es braucht also mehr Selbstkritik?
Wir brauchen Strukturen, innerhalb derer die Profis selbst öffentlich Kritik äußern, nicht nur für den eigenen Expertenkreis. So können Menschen auch nachvollziehen, wie der Erkenntnisprozess verläuft. Momentan ist das eine große Schwäche, denn die öffentliche Kritik gegenüber Forschung, die völlig berechtigt ist, machen überwiegend Verschwörungsideologen – und das auf keine gute Weise. Das Gleiche gilt für Medien, wo es die sogenannten „alternativen Medien“ sind, die die etablierten kritisieren. Wenn das kein anderer macht, können die vernünftigen Leute – die konstruktiv misstrauen – nicht richtig abwägen. Es braucht Zeit und Mühe, diese komplexen Systeme zu durchschauen und zu kontrollieren. Sowas geht nicht mehr auf einer vorprofessionellen Ebene.
Um optimistisch in die Zukunft zu blicken: Sind wir, trotz der vielen Probleme, auf dem richtigen Weg?
„Auf dem richtigen Weg“ würde ich nicht sagen, aber in jedem System ist angekommen, dass die Dinge nicht mehr so weitergehen können. Es gibt Versuche, neue Wege zu gehen, ohne die Qualitätsstandards, die die Gesellschaft stark gemacht haben, zu verlieren. Das ist eine hochkomplexe Herausforderung und betrifft, aus meiner Sicht, alle Bereiche, sogar Kunst und Kultur. Diese neue Legitimation kann nicht mehr intern sein. Ich wünschte, ich hätte die Lösung dafür, wie wir intern produktiv sein können und extern Transparenz schaffen, um weiterhin effektiv zu sein. Wie das geht, weiß ich auch nicht.
Vielen Dank für dieses aufschlussreiche Gespräch, Aladin El-Maafalani.