Gespräch mit Michel Friedman

“Die vielleicht traurigste Liebeserklärung an das Leben”

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 © The Pioneer

Guten Morgen,

ich begrüße Sie zu unserem Gesellschaftspodcast Der 8. Tag – schön, dass Sie dabei sind.

Ich möchte Ihnen heute etwas Persönliches erzählen:

Im Kindergarten wurde mir das erste Mal das Gefühl gegeben, hier in Deutschland fremd zu sein.

Ich war vier Jahre alt, als ich das erste Mal hörte, dass ich scheinbar eine Heimat hatte, die nicht die hiesige war und in die ich zurückkehren sollte.

Das sagte man mir nicht auf eine freundliche Weise, falls man so etwas überhaupt freundlich sagen kann, das sagte man mir drohend.

Das waren die ersten, freilich nicht die letzten Erfahrungen mit dem, was man je nach Diskursphase mal Ausländerfeindlichkeit nannte, mal Rassismus, mal Diskriminierung.

Wenn Sie als Kind hören, dass der Raum, in dem Sie geboren und auf dem Weg sind aufzuwachsen, nicht Ihrer ist, sie gewissermaßen illegitim sind, dann macht das was mit Ihnen.

Vielleicht entwickeln Sie Anpassungsstrategien, vielleicht rebellieren Sie, vielleicht versuchen Sie auch in allem perfekt zu werden, um ja keine Angriffsfläche mehr zu bieten.

Warum erzähle ich Ihnen das?

Weil es heute genau darum gehen soll: das Fremdsein.

Um fremd zu sein, um als fremd wahrgenommen zu werden, muss man natürlich nicht aus einer zugewanderten Familie kommen.

Sie können sich auch fremd in Ihrer eigenen Familie fühlen. Oder fremd auf der Welt.

ODB, ein mittlerweile verstorbener legendärer Rapper, hat mal zu seiner Managerin Eva Ries in einem stillem Moment gesagt:

Sometimes I wish the Mothership would come and snatch me off this earth.

Das Fremdsein ist oft Ausgangspunkt großer Kunst, ein Bestandteil kultureller Errungenschaften.

Es ist allerdings das als fremd wahrgenommen und markiert werden, das dem Ganzen eine politische, meist unangenehme, oft gefährliche Dimension verleiht.

Doch wie können wir das Fremdsein neu und vielleicht anders denken?

Ist der Fremde vielleicht der Wachere, der andere, der nicht in der Menge untergeht und somit der sich selbst Bewusstere?

Oder ist das schon wieder eine Überhöhung des Begriffs fremd?

Dieses und viel mehr habe ich mit einem Mann besprochen, der weiß, wie sich Fremdsein anfühlt.

Weiß, wie das zum Fremden gemacht werden Menschen ausschließen, unterdrücken, töten, gar zum Unmenschen degradieren kann.

Aber er hat Hoffnung. Und er kämpft. Für das Menschsein.

Und ich freue mich, wenn Sie heute mitkämpfen.

Mit Michel Friedman und mir.

Mit Michel Friedman vor dem Pioneer-Office in Berlin-Charlottenburg © The Pioneer / Jette Froberg

Hören Sie dieses Gespräch über den schmerzhaften Schreibprozess seines neuen Buchs Fremd, über Identitätskrisen und Einsamkeit – und über ein Leben, das in Bewegung bleiben muss, um nicht zu erstarren.

"Die vielleicht traurigste Liebeserklärung an das Leben"

Publizist Michel Friedman über das Gefühl, fremd zu sein, Einsamkeit und ein Leben in Bewegung.

Podcast hören

Veröffentlicht in Der 8. Tag von Alev Doğan.

Podcast

Der 8. Tag

Über sein Buch sagt Friedman:

Es ist vielleicht die traurigste Liebeserklärung an das Leben, aber es ist eine Liebeserklärung an das Leben. Es ist ein Trotzdem.

Ich glaube, dass Authentizität, Autonomie und Emanzipation die einzige Chance eines eigenen Lebens sind. Dass wir das nie ganz schaffen, ist traurig, das ist aber auch real. Aber, dass wir uns auf den Weg immer wieder machen, das wünsche ich jedem, der uns zuhört.

Ich bin ein Einzelgänger. Ich bin ein Mensch, der Gruppen nicht versteht und meidet. Ich verstehe die Rituale dieser Gruppen nicht. Natürlich verstehe ich sie, aber ich verstehe nicht, wie man darauf abfahren kann.

Die Sehnsucht nach dem Ankommen ist nachvollziehbar, aber die Realität ist, sich dieser Falle nie zu stellen. Wenn es dir sehr gut geht, zu gut geht, wenn du dich zu wohl fühlst - schüttel dich und mach dich auf den Weg.

Ich finde, das Schlimmste, was man dir sagen kann, ist 'Du hast dich überhaupt nicht verändert'. Da kann man sich die Kugel geben.

Der ehemalige US-Präsident Donald Trump spricht in Ohio – und das Publikum jubelt.  © IMAGO/Kyle Mazza

Ein Wahlkampfauftritt des ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump in Ohio.

Sein Publikum jubelt ihm frenetisch zu.

Doch etwas ist anders.

In die Höhe gereckte Arme, erhobene Zeigefinger, gebeugte Köpfe und geschlossene Augen.

Es geht nicht um deplatzierte historische Vergleiche, auch nicht um Alarmismus.

Es geht darum, im Rausch der sich überbietenden Nachrichten, sich einen Moment zu nehmen, auf die Pausentaste zu drücken und mal in Ruhe auf sich wirken zu lassen, was da gerade in den USA rund um Trump passiert.

Was steht da eigentlich bei den kommenden Mid-Term Elections im November auf dem Spiel?

Eine Menge, meine ich. Hören Sie im Achten Tag, weshalb.

Buchcover Sisi © Kiepenheuer & Witsch

Wenn Sie finden, dass jetzt, wo Lebkuchen wieder in den Regalen liegt, auch die Zeit gekommen ist, sich mit Sisi auseinanderzusetzen – dann tun Sie es doch in diesem Winter durch die Augen der Autorin Karen Duve.

Weit entfernt vom Kitsch, der sonst wie eine Patina auf Elisabeth von Österreich liegt, hat sich Duve in ihrem neuen Roman der Authentizität verpflichtet.

Und das ist weit interessanter als die Märchenfigur, die aus der Frau gemacht wurde.

Karen Duve ist übrigens auch Gast der aktuellen Ausgabe unseres Pioneer-Literatur-Podcasts Edle Federn mit Juli Zeh – auch das lohnt sich!

Eine Frau ruft Parolen neben einer iranischen Fahne während einer Demonstration vor der iranischen Botschaft nach dem Tod der Iranerin Mahsa Amini.  © picture alliance/Francisco Seco

... den Iranerinnen.

Ein Protest, ein Freiheitskampf, den sie unter Lebensgefahr auf offener Straße austragen.

Vor dem Mut dieser Frauen verneige ich mich.

Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende und freue mich, wenn wir uns im nächsten Achten Tag wieder begegnen.

Bis dahin – auf sehr, sehr bald.

Herzlichst

Ihre

Pioneer Editor, Stv. Chefredakteurin ThePioneer
  1. , Pioneer Editor, Stv. Chefredakteurin ThePioneer

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