heute kommt das Hauptstadt-Briefing von Christian Schlesiger und dem Politik-Team.
Unsere Themen heute:
Blame Game: Wie sich Union und SPD beim Kanzler-Krimi gegenseitig beschuldigen.
Koalition des Misstrauens: Herfried Münkler über „das dritte Merz-Trauma“.
Kontrolle ist besser: AfD sanktioniert Russlandreisen der eigenen Abgeordneten.
Glücklich unglücklich: Matthias Miersch wird heute SPD-Fraktionschef.
Rheinland-Pfalz: Neues Machtzentrum der SPD.
Gas-Stopp aus Russland: BSW-Abgeordneter Fabio De Masi kritisiert die EU-Pläne.
Kurz nach 16 Uhr: Friedrich Merz wird Bundeskanzler – mit 325 Stimmen im zweiten Wahlgang. Im ersten Versuch hatten ihm noch 18 Abgeordnete aus den eigenen Reihen ihre Stimme verweigert.
In der Sonder-Fraktionssitzung vor dem zweiten Wahlgang meldet sich Merz zu Wort. Niemand solle an seiner Standhaftigkeit zweifeln. Es ginge nicht um ihn, sondern um die Demokratie.
Fiasko vermieden: Doch vielleicht haderte er mehr, als es nach außen sichtbar war. Meiner Kollegin Karina Mößbauer sagten einige Merz-Vertraute gestern, dass sie nicht glaubten, dass Merz sich einen dritten Wahlgang zumuten würde. Er hätte möglicherweise hingeschmissen.
Die emotionalsten Momente des gestrigen Tages:
Schock-Starre: Nach dem ersten Wahlgang verschwindet Merz in seinem Büro auf Fraktionsebene. Mit versteinerten Mienen kommen Frau und Töchter dazu. Merz berät sich mit SPD-Co-Chef Lars Klingbeil. Außerdem dabei: unter anderem Jens Spahn, Alexander Dobrindt, Thorsten Frei.
Erst nach der Besprechung stößt Merz zu seiner Fraktion. Er sagt kein Wort. Spahn stärkt ihn: „Deine Fraktion steht hinter dir.“ Danach: Standing Ovations und Applaus. Es war emotional, berichten Teilnehmer.
Währenddessen schwört Klingbeil die SPD-Fraktion ein: Es drohe eine Staatskrise, sollte auch der zweite Wahlgang scheitern, hört meine Kollegin Laura Block.
Lösungs-Wirrwarr: Die Geschäftsordnung (GO) des Bundestags regelt das Prozedere, aber Union und SPD interpretieren unterschiedlich. Schließlich die Einigung: Fristverkürzungen mit Zwei-Drittel-Mehrheit – also mit Grünen und Linken.
Heikle Beziehung: In der Linken nährt das die Hoffnung auf ein offizielles Ende des Unvereinbarkeitsbeschlusses. Inoffiziell wurde er gestern durch die Aktion beerdigt.
Zweiter Wahlgang möglich – Fraktionen sollen in Reichstagsnähe bleibenDebatte in der Union: Die einen plädieren für eine schnelle Umsetzung des zweiten Wahlgangs, um das Schockmomentum zu nutzen. Andere wollen sich Zeit nehmen, um potenzielle Abweichler zu überzeugen.
Apropos Abweichler: Die Suche nach den Putschisten beginnt. Auf den Fluren gibt es drei Theorien, hören Karina und Laura:
Die Partei-Linke der SPD hadere mit Merz – einige stimmten gegen ihn.
Ein Denkzettel für SPD-Chef Klingbeil, der trotz Wahlniederlage mit großem Ego seine Macht ausgeweitet hat.
Konservative Unions-Abgeordnete wollten Merz wegen der Schuldenbremsen-Lüge eins auswischen, heißt es in der SPD.
Union und SPD beschuldigen sich gegenseitig: Merz mahnte in der zweiten Fraktionssitzung zu Fairness. Man solle keine Schuldzuweisungen an den Koalitionspartner richten. SPD-Politiker Ralf Stegner sagt uns:
Es spricht nichts dafür, dass Abgeordnete aus der SPD gegen Friedrich Merz gestimmt haben. Die Alternative wäre nämlich die AfD und das will niemand aus unserer Partei.
Fazit: Im heute journal spricht Merz vom „kleinen Makel“ seines Kanzler-Starts. Das Deutungsspiel beginnt.
Herfried Münkler: „Das dritte Trauma des Friedrich Merz“
Aus Sicht des Politikwissenschaftlers Herfried Münkler hat die Schlappe von Friedrich Merz im ersten Wahlgang weitreichende Konsequenzen für die schwarz-rote Koalition.
Herfried Münkler © imagoEntschleunigung: „Es wird eine Koalition des Misstrauens werden“, sagt Münkler meinem Kollegen Jan Schroeder. „Merz und Klingbeil werden das Tempo der von ihnen angekündigten politischen Erneuerung nun dramatisch verlangsamen müssen.“
Die Regierung müsse sich bei jedem Vorhaben genau vergewissern, dass sich eine solche Niederlage nicht wiederhole. In der Koalition umstrittene, aber wichtige Projekte, müssten hintangestellt werden.
Stolperstart: „Merz wirkt tief verunsichert, aber auch Lars Klingbeil ist dadurch geschwächt.“ Ein grundlegender Politikwechsel sei unter diesen Bedingungen nur schwer möglich.
Heckenschützen: Dass die Namen und Beweggründe der Abweichler in den Reihen von SPD und Union nicht bekannt seien, bereite der neuen Regierung zusätzliche Schwierigkeiten, so Münkler. „Das macht es unmöglich, mit den Unruhestiftern ein Auskommen zu finden oder einen Deal zu schließen.“
Eine Infografik mit dem Titel: Kanzlerwahlen unter der Lupe
Abweichungen von Koalitionsmehrheiten bei Kanzlerwahlen im Bundestag 1949–2021
Dritte Niederlage: Schon mehrfach ist Merz im politischen Leben gescheitert. Er wurde von Angela Merkel 2004 im parteiinternen Wettbewerb um die Fraktionsspitze verdrängt, von Armin Laschet 2021 im Rennen um die Kanzlerkandidatur geschlagen und ist nun im ersten Wahlgang gestolpert.
Das ist das dritte Trauma des Friedrich Merz’.
Und: „Eigentlich wäre eine reibungslose Wahl so etwas wie die Therapie für Friedrich Merz gewesen.“
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AfD sanktioniert Russlandreisen der eigenen Abgeordneten
Der Fraktionsvorstand der AfD im Bundestag will die Reiseaktivitäten der eigenen Fraktionsmitglieder mit einer neuen Regel kontrollieren. Dienstreisen nach Russland und Weißrussland müssen die Abgeordneten demnach ab sofort dem Vorstand melden, hört mein Kollege Jan Schroeder aus Parteikreisen.
Sonst drohen Sanktionen: Fliegen AfD-Fraktionsmitglieder trotzdem ohne Anmeldung nach Russland, gilt das als „fraktionsschädigend“. Urlaubsreisen sind von der Regel nicht betroffen.
Die Geschäftsordnung der AfD-Fraktion: Sieht in dem Fall zunächst Geldstrafen in einer noch nicht festgelegten Höhe vor. Sollte ein Abgeordneter sich wiederholt gegen die Geschäftsordnung vergehen, kann der Vorstand weitere Sanktionen ziehen: entweder das Rederecht bei Fraktionssitzungen oder im Bundestags-Plenum entziehen oder den Abgeordneten aus der Fraktion ausschließen.
Matthias Moosdorf (AfD) © dpaRusslandfreund widerspricht: Der sächsische AfD-Abgeordnete Matthias Moosdorf hat in der Fraktionssitzung am Montag Einspruch gegen die neue Regel erhoben, wie er uns erzählt. Moosdorf sagt:
Es gibt Grauzonen, die in dieser Regel nicht bedacht sind und im Einzelfall geklärt werden müssen.
Grauzone? Damit meint Moosdorf seine eigenen Reisen nach Russland, bei denen er nicht vom AfD-Fraktionsvorstand kontrolliert werden möchte. Die Reisen unternehme er nicht als AfD-Politiker, wohl aber in seiner Funktion als Botschafter des Weltchorverbandes. Wobei er dennoch auch russische Politiker treffe, wie er sagt.
„Ich werde mich weiter international für die Völkerverständigung in der Wissenschaft, in der Kultur und im Sport engagieren und dafür auch reisen“, sagt Moosdorf außerdem.
Ein mächtiger Posten für die Parteilinke
Noch-Generalsekretär Matthias Miersch will sich heute zum Chef der Fraktion wählen lassen. Die Mehrheit dürfte ihm sicher sein, aber ein Triumph wird die Wahl wohl nicht.
SPD Generalsekretär Matthias Miersch © dpaNicht alle sind glücklich mit dem Kandidaten, hört meine Kollegin Laura Block. Einige Genossen wünschen sich den ehemaligen Arbeitsminister Hubertus Heil an der Fraktionsspitze.
Heil hatte aber am Sonntag erklärt, auf eine Kandidatur verzichten zu wollen. Ihm fehle die Unterstützung der Parteispitze. Am Montag gab es in der Fraktionssitzung langen Applaus für Heil, hören wir.
Miersch-Unterstützer: Letztendlich konnte Vizekanzler und Finanzminister Lars Klingbeil seinen Wunschkandidaten durchsetzen. Miersch gilt als enger Vertrauter des mächtigen Parteichefs.
Die Strömungen in der SPD stimmten der Personalie zu, um eine Kampfkandidatur zu verhindern. Die Gefahr sei zu groß gewesen, dass beide Kandidaten geschwächt aus der Wahl kommen, hört meine Kollegin.
Miersch wird sich an zwei Ergebnissen messen lassen müssen: an dem von Klingbeil, als er im Februar zum Fraktionsvorsitzenden gewählt wurde (85,6 Prozent), und an dem von Jens Spahn. Der Unionsfraktionschef erhielt am Montag 91,3 Prozent der Stimmen.
Die unheimliche Macht des kleinen Rheinland-Pfalz’
Zwischen Mosel und Rhein erstreckt sich das kleine Bundesland, 19.847 km² groß, knapp über vier Millionen Einwohner. Bundespolitisch war Rheinland-Pfalz seit dem Pfälzer Helmut Kohl nicht mehr so bedeutend.
Alexander Schweitzer © dpaVorbild Mainz: Der SPD-Ministerpräsident Alexander Schweitzer sagt meinem Kollegen Nils Heisterhagen:
Das ist heute ein guter Tag für Rheinland-Pfalz. Wir werden mit Stefanie Hubig und Verena Hubertz zwei starke Politikerinnen und auch Fürsprecherinnen für unser Land in der Bundesregierung haben.
Und ergänzt:
In Berlin schaut man auf den starken SPD-Landesverband Rheinland-Pfalz.
Neben Hubig und Hubertz kommen auch Verkehrsminister Patrick Schnieder und Bundestagspräsidentin Julia Klöckner aus Rheinland-Pfalz.
Zum Vergleich: Manche Bundesländer gehen bei den Ministern ganz leer aus.
Auch die Stärke der CDU Rheinland-Pfalz bleibt nicht verborgen. Schnieder ist der Bruder des Landesvorsitzenden Gordon Schnieder, der Schweitzer im nächsten Jahr herausfordern will. Schnieders Personalie ist sicher auch ein Versuch von Friedrich Merz, der CDU dort Luft unter die Flügel zu geben.
Mit Bauen und Verkehr sind die Infrastrukturministerien nun in rheinland-pfälzischen Händen. Die Hoffnung der Lokalpolitiker: Das könnte viel Infrastruktur-Geld bringen.
Kein russisches Gas mehr: Kritik am EU-Plan
Im Windschatten der deutschen Kanzlerwahl wurde gestern in Straßburg ein weitreichender Plan der EU präsentiert: Bis Ende 2027 sollen Gasimporte aus Russland vollständig beendet werden.
Kritik kommt vom BSW-Europaabgeordneten Fabio De Masi. Er sagt meinem Kollegen Jan Schroeder:
EU-Abgeordneter Fabio De Masi © dpaBrüssel will russisches Pipelinegas durch US-amerikanisches LNG-Gas ersetzen. Das ist teurer und schmutziger.
Darum geht's: Zehn EU-Länder importieren noch Gas aus Russland, darunter etwa Frankreich und Belgien (als Flüssiggas LNG), von wo das Gas auch nach Deutschland transportiert wird.
Damit soll Schluss sein: Ab nächstem Jahr soll es keine Kurzfrist-Verträge mehr geben (etwa ein Drittel des Gases), ab 2028 dann überhaupt kein russisches Gas mehr fließen.
Klein aber oho: Gasimporte aus Russland sind seit Beginn des Ukraine-Kriegs bereits auf ein Drittel gefallen – von über 150 auf etwa 52 Kubikmeter im vergangenen Jahr.
Doch „auch kleine Mengen russischer Energie sind riskant“, hört mein Kollege Jonathan Packroff von einem EU-Beamten. Denn: Russland habe Energielieferungen als Waffe eingesetzt.
Die Beamten rechnen mit „begrenzten“ Auswirkungen auf die Preise — wie viel, möchten sie auf Nachfrage nicht beziffern.
Timm Kehler, Chef des Verbands Die Gas- und Wasserstoffwirtschaft, warnt vor weniger Wettbewerb:
Ein Verzicht ohne gesicherten Ersatz würde die Verhandlungsposition der EU schwächen und die Preise treiben.
Der Ausstieg sei „aus sicherheitspolitischer Sicht absolut gerechtfertigt“, sagt er, doch zunächst müssten Alternativen geschaffen werden. „Der Weg dorthin ist komplex und wirtschaftlich nicht risikofrei.“
Weiter Weg: Ein Gesetz will die EU-Kommission im Juni vorlegen. Dann müssen Regierungen und EU-Parlament über die Pläne verhandeln.
Eine Umfrage der Bundesagentur für Arbeit und der Deutschen Gesellschaft für Personalführung zeigt eine hohe Bereitschaft von Unternehmen, Geflüchtete zu integrieren. Die Erfahrungen mit dieser Zielgruppe stiegen im Vergleich zum Vorjahr um 16 Prozentpunkte.
Eine Infografik mit dem Titel: Unternehmen sammeln Erfahrung mit geflüchteten Arbeitskräften
Erfahrung in Unternehmen mit Geflüchteten mit geringen Deutschkenntnissen, Zustimmung in Prozent
Das war gestern und in der Nacht außerdem los:
Zuschnitt der Ministerien: Ein Organisationserlass des neuen Bundeskanzlers regelt den Auf- und Umbau der einzelnen Ressorts, unter anderem die Gründung des neuen Digitalministeriums.
Beamte: Sachsens Innenminister Armin Schuster (CDU) lehnt pauschale Konsequenzen für Beamte mit AfD-Mitgliedschaft ab. „Eine anlasslose Gesinnungsprüfung oder einen neuen Radikalenerlass wird es in Sachsen nicht geben“, sagte er der taz.
AfD: Eine Mehrheit des Europaparlaments hat in Straßburg für die Aufhebung der Immunität von AfD-Politiker Petr Bystron gestimmt. Damit können die Ermittlungen wegen Geldwäsche und Bestechlichkeit aus seiner Zeit als Bundestagsabgeordneter fortgesetzt werden.
AfD-Verbot: Friedrich Merz zeigt sich gegenüber der ARD zurückhaltend mit Blick auf ein mögliches AfD-Verbot. „Zehn Millionen Wählerinnen und Wähler der AfD, die können Sie nicht verbieten“, so Merz. Gleichzeitig räumte er ein, dass sich sein Blick auf die Partei nach der Einstufung verändert habe.
Brandenburg: Inmitten der Debatte über den Umgang mit der AfD hat Innenministerin Katrin Lange (SPD) den Chef des brandenburgischen Landesverfassungsschutzes, Jörg Müller, entlassen. Das notwendige Vertrauen für eine weitere Zusammenarbeit sei nicht mehr gegeben, teilte sie in Potsdam mit.
Digitalfunk: Bundesweit ist der Digitalfunk der Sicherheitsbehörden massiv gestört. In vielen Regionen sei das Behördenfunknetz ausgefallen oder nur eingeschränkt nutzbar, berichten Einsatzkräfte.
Wer befindet sich heute wo und welche Termine sind noch relevant?
Kanzler Friedrich Merz reist heute um 8 Uhr zu seinem ersten Antrittsbesuch nach Frankreich. Am Nachmittag geht es dann direkt nach Polen weiter.
Die Ministerien gehen heute an die neuen Amtsinhaber über, zum Beispiel:
Um 10 Uhr übergibt Robert Habeck das Wirtschaftsministerium an Katherina Reiche.
Um 12 Uhr übernimmt Lars Klingbeil das Finanzministerium von Jörg Kukies.
Um 14 Uhr übergibt Svenja Schulze das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung an Reem Alabali-Radovan.
Heute gratulieren wir herzlich:
Michael Kretschmer (CDU), Sächsischer Ministerpräsident, 50
Henri Schmidt, CDU-Bundestagsabgeordneter, 42
Christine Lieberknecht, ehem. Ministerpräsidentin von Thüringen, 67
Ich wünsche Ihnen einen erfolgreichen Start in diesen Mittwoch!
Herzlichst,
Ihr