Altkanzlerin

Die Sticheleien der Angela Merkel

Die Gräben zwischen der CDU von Angela Merkel und der von Friedrich Merz vertiefen sich. Während die frühere Bundeskanzlerin inzwischen immer öfter stichelt, fehlt dem Kanzler offenbar die Autorität für ein klares Machtwort.
Jan Schroeder
05.10.2025
© The Pioneer
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Vor einem Jahr schien es fast so, als könnten Angela Merkel und Friedrich Merz nach mehr als zwei Jahrzehnten der Rivalität doch noch halbwegs miteinander auskommen. Damals, im September vergangenen Jahres, anlässlich des 70. Geburtstages der früheren Bundeskanzlerin traten die beiden noch harmonisch auf. Manche sprachen sogar von einer Versöhnung zwischen der ehemaligen und dem neuen Parteivorsitzenden der CDU beim Festakt in der Akademie der Wissenschaften. Einige der Glückwünsche, die Merz in seiner Laudatio äußerte, hatten allerdings einen Beigeschmack.

Angela Merkel und Friedrich Merz © dpa

„Liebe Angela,“ sagte der damalige Oppositionsführer in seiner Rede ganz zum Schluss, „wir wünschen dir, dass du deiner Partei – der du angehörst und nicht nur nahe stehst – gewogen bleibst.“ Merkel sollte die als Glückwunsch verpackte Mahnung nicht beherzigen. Gegenüber Merz fühlt sie sich an keine Parteidisziplin gebunden. Wenige Monate nach der feierlich inszenierten Harmonie zwischen den beiden attackierte Merkel ihren Nachfolger in aller Öffentlichkeit – und das mitten im Wahlkampf.

Dabei scheint Merkels Kritik an der gemeinsamen Abstimmung von Union und AfD Ende Januar im Bundestag nur der Anfang gewesen zu sein. Die Altkanzlerin ist zurück. Angela Merkel ist zwar seit vier Jahren nicht mehr im Amt, aber noch lange nicht im Ruhestand. In den vergangenen Wochen und Monaten häufen sich ihre Auftritte und Kommentare. Wer sie beobachtet hat, wird feststellen: Die frühere Bundeskanzlerin wird die neue CDU von Friedrich Merz nicht in Ruhe lassen.

Unwahrscheinlich, dass es ihr um ein politisches Comeback geht. Sie strebt offensichtlich nicht nach einem neuen Amt. Dennoch hat sie eine politische Mission. Ihre neue Rolle dürfte die politische Debatte in Deutschland in den nächsten Jahren prägen und weitreichende Folgen für Merz und die CDU haben. Merkel stellt die Union vor eine Zerreißprobe.

Die Brandmauer-Wächterin

Vergangene Woche im Admiralspalast in der Berliner Friedrichstraße gab Angela Merkel Spiegel-Journalist Markus Feldenkirchen vor großem Publikum ein Interview. Der Saal war bis auf den letzten Platz besetzt, alle Tickets waren ausverkauft.

Markus Feldenkirchen und Angela Merkel © dpa

An diesem Abend konnte man das Gefühl bekommen, die frühere Bundeskanzlerin sei nie weg gewesen. Merkel trug einen blauen Blazer und machte die Raute.

In dem Gespräch sagt sie Sätze wie diesen:

Die Union ist dafür verantwortlich, so weit in die Mitte zu integrieren, dass rechts von ihr keine Partei entsteht.

Das dürfe aber „nicht um den Preis“ geschehen, „die eigenen Werte aufzugeben“, mahnte sie. Dann zählte sie aus ihrer Sicht die wichtigsten Werte der Union auf. Zuerst nannte sie: Das Eintreten für die Menschenwürde, dann Europa und die Nato. Das Publikum applaudierte lautstark.

Später schob Merkel nach: „Als ich aus dem Amt schied, lag die AfD bei elf oder zwölf Prozent.“ Wieder: Beifall. Merkel brauchte nicht zu erwähnen, dass Kanzler Friedrich Merz der Adressat dieser Worte war. Unter seiner Regentschaft liegt die AfD aktuell in Umfragen bei 25 bis 27 Prozent und damit teilweise vor der Union.

Der AfD dürfe man „nicht nach dem Mund“ reden. So sei die Partei nicht klein zu halten.

Das ist ja die Kunst: Maß und Mitte zu finden und nicht noch weiter zu polarisieren.

In ihrer offiziellen Erklärung auf der Webseite ihres Büros vom 30. Januar heißt es: „Für falsch halte ich es, (...) sehenden Auges erstmalig bei einer Abstimmung im Deutschen Bundestag eine Mehrheit mit den Stimmen der AfD zu ermöglichen.“

Mitten im Wahlkampf wurde das von vielen in der Union als Sabotage gewertet. Merkels Ansage traf die Partei empfindlich. Es war ihr erstes politisches Statement nach langer Zurückhaltung. Das Wahlergebnis der Union bei der Bundestagswahl lag bei 28,5 Prozent und blieb damit hinter den Umfragewerten der Union vom Dezember (31 Prozent) zurück. Merz’ Vorgehen – ebenso wie Merkels kleiner Nadelstich – dürften daran ihren Anteil gehabt haben. Inzwischen räumt zumindest CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann ein, dass das Manöver mit der AfD ein Fehler war.

Carsten Linnemann © dpa

Merkel stellt das offenbar nicht zufrieden. Im Gespräch mit Feldenkirchen stichelt sie erneut: Sie wisse, dass es „sehr viele CDU-Mitglieder gibt, die sich freuen, wenn ich an der Stelle den Mund aufmache”. Das sei „zurzeit nicht die Mehrheit“ in der CDU, aber „eine Volkspartei muss auch das abkönnen.“ Merkel musste nicht erwähnen, dass nach wie vor auch einflussreiche Köpfe in der CDU ihrem Lager angehören.

Sicher, weder der NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst, noch Armin Laschet oder die langjährige Merkel-Vertraute und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen suchen derzeit die offene Auseinandersetzung mit Merz.

Hendrik Wüst und Friedrich Merz beim NRW-Sommerfest © Imago

Die Drohung in Richtung Kanzleramt war auch so perfekt. Sollte Merz sich erneut – wie im Januar – auf die AfD zubewegen, wird sie nicht schweigen. Über die Einhaltung der Brandmauer wacht sie persönlich.

Andere, wie Publizist Michel Friedman, verließen bei der als „Tabubruch” bezeichneten Abstimmung aus Protest die CDU. Merkel stellte in dem Interview mit Feldenkirchen klar: Diesen Gefallen werde sie Merz nicht tun. Sie verkörpere das CDU-Stammklientel: christlich erzogen in einer Pastorenfamilie, die ersten politischen Gehversuche im Engagement für ein demokratisches und geeintes Deutschland in der DDR-Bürgerbewegung. An einen Austritt aus der CDU denke sie nicht, antwortete sie auf Nachfrage.

Michel Friedman © imago

Merkel läuft sich zunehmend als Fürsprecherin einer anderen Union warm. Merz hingegen fehlt entweder der Wille oder die Autorität, Merkels Sticheleien klar zu widersprechen. Seine persönlichen Zustimmungswerte sinken seit Monaten.

Merz ist zwar der neue Parteivorsitzende, doch für viele ist Merkel die moralische Instanz, die sich nun unangreifbar außerhalb der machtpolitischen Konkurrenz bewegt. Wer kein Amt hat, kann nicht abgewählt werden.

Auch die vor der Sommerpause gescheiterte Wahl der Richterkandidaten für das Bundesverfassungsgericht hat gezeigt, wie groß die Fliehkräfte in der Union derzeit sind.

Merkel hatte als Bundeskanzlerin die Autorität, sowohl ihren Vorgänger Helmut Kohl klar in die Schranken zu weisen als auch die CDU zu modernisieren. All das trotz Protest von Männercliquen wie jenen, die sich etwa im berüchtigten „Andenpakt“ die Treue geschworen hatten. In ihrer Biografie zelebriert sie dieses Kapitel ihrer politischen Laufbahn.

Bundeskanzler Helmut Kohl und seine Ministerin Angela Merkel beim CDU-Parteitag Ende 1991 in Dresden © Imago

Ungeachtet der oftmals auftrumpfenden Rhetorik fehlt es Merz an Durchsetzungsfähigkeit. Für eine Modernisierung der Partei fehlen ihm die Ideen, einer konservativen Rückbesinnung steht das Merkel-Lager im Weg.

Merz und Merkel: liebste Feinde

Zwei Jahre nach ihrem Ausscheiden aus der aktiven Politik war so gut wie nichts von Angela Merkel zu hören. Wenn sie sich öffentlich äußerte, dann förmlich und kurz. Lediglich an Jubiläen, Geburtstagen oder etwa dem Tod ihres langjährigen Weggefährten und Finanzministers Wolfgang Schäuble gab sie Presseerklärungen ab. Inzwischen kommentiert sie fleißig in Interviews oder öffentlichen Auftritten.

Dieser Tage passte ihr etwa die Rednerliste bei den Feierlichkeiten zum Jahrestag der Deutschen Einheit nicht. Statt Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hätte sie lieber jemanden anderes gehört. „So sehr ich Präsident Macron schätze, aber vielleicht hätte man auch jemanden aus Osteuropa oder aus Ostdeutschland als Gastredner nehmen können“, sagte Merkel dem ZDF im Vorfeld.

Die persönliche Rivalität von Merz und Merkel hält seit mehr als zwei Jahrzehnten. Sie fand ihren ersten Höhepunkt, als Merkel sich nach der Bundestagswahl 2002 gegen ihren Konkurrenten aus dem Sauerland als Fraktionsvorsitzende durchsetzte.

Angela Merkel und Edmund Stoiber © dpa

Der inzwischen verstorbene Journalist Michael Spreng, einst Wahlkampfberater des CSU-Politikers Edmund Stoiber, beschrieb die fortwährende Rivalität 2007 als „exemplarische Geschichte eines talentierten, aber überheblichen und eitlen Mannes, der eine listige, zielstrebige und uneitle Frau unterschätzte“. Merz unterlag bekanntermaßen und ließ 2009 die aktive Politik aus Protest gegen Merkel vorübergehend hinter sich. Womöglich unterschätzt er seine Widersacherin auch heute noch.

Als im Herbst vergangenen Jahres ihre Biografie „Freiheit” erschien, deutete wenig darauf hin, dass Merkel künftig wie Altkanzler Helmut Schmidt in die Rolle der politischen Kommentatorin und Kritikerin ihres Nachfolgers schlüpfen sollte – wobei Schmidt mit Helmut Kohl immerhin einen parteipolitischen Konkurrenten jagte und nicht die eigenen Genossen.

Ludwig Erhard und Konrad Adenauer © dpa

Dass eine Bundeskanzlerin ihren Nachfolger im Amt derart kritisiert, obwohl beide das gleiche Parteibuch haben, gab es in der Bundesrepublik bisher nur einmal: In den 1950er Jahren stritten die beiden „ungleichen Gründerväter” der Bundesrepublik, Konrad Adenauer und Ludwig Erhard. Der ältere Adenauer ließ nicht locker, auch nachdem Erhard die Kanzlernachfolge für sich entschieden hatte.

Alles richtig gemacht?

In der Union wünschen sich viele eine gewisse Einsichtigkeit – auch von der früheren Bundeskanzlerin. Merkel würde sich keinen Zacken aus der Krone brechen, wenn sie mal erklärte, in der Migrationsfrage nicht jeden Tag richtig gelegen zu haben, sagte etwa der ehemalige CSU-Chef Horst Seehofer der Süddeutschen Zeitung im vergangenen Jahr.

Horst Seehofer © imago

Doch Merkel denkt nicht daran. Im Admiralspalast sagte sie: „Ich sehe im Großen und Ganzen damals nicht, was man hätte anders machen können.“ Jene, die ihr in der Vergangenheit Sturheit vorgeworfen haben, könnten sich durch solche Aussagen bestätigt fühlen.

Wirklich? Alles richtig gemacht? Als ihr Interviewer nachhakte, antwortete Merkel:

Wir hätten mehr Geld in die Flüchtlingslager geben können.

Das habe man versäumt. „Das würde ich heute anders machen.“ Weiter könnten Merkel und die Mehrheit ihrer Partei nicht auseinanderliegen. Ihre jeweiligen Lehren aus der Flüchtlingskrise 2015 sind diametral entgegengesetzt. Die Regierung von Merz hat eben den Etat für Entwicklungshilfe gestutzt.

Fluchtursachen bekämpfen, statt an den Grenzen zurückzuweisen – damit würde selbst die Mehrheit der SPD inzwischen keine Kampagne mehr machen.

In der Union dominiert längst die Position von Merkels früherem Innen- und späteren Ernährungsminister Hans-Peter Friedrich, der vor kurzem in der Bild sagte:

Die Botschaft von Frau Merkel hieß ‚Deutschland öffnet seine Grenzen‘ und ging um die Welt

Und weiter: „Die Folgen dieser tiefgreifenden politischen Fehlentscheidung waren eine Massenzuwanderung, die unsere Integrationsfähigkeit und unser Sozialsystem bis heute völlig überfordert. Jetzt rettet uns nur die klare Botschaft, dass wir illegale Zuwanderung mit allen Mitteln verhindern werden.“

Der CSU-Politiker und Bundestagsvizepräsident Hans-Peter Friedrich © imago

Die Unruheständlerin

Merkel kann für sich reklamieren: „Ich bin nie abgewählt worden.“ Die frühere Kanzlerin erfreut sich offenbar weiterhin großer Beliebtheit. Zwar weniger in der eigenen Partei, wohl aber links davon.

Diese Woche hat die Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsidentin Manuela Schwesig (SPD) die frühere Bundeskanzlerin mit dem Landesverdienstorden ausgezeichnet.

Angela Merkel und Manuela Schwesig © dpa

Während Schwesigs Rede im Stralsunder Markthaus waren draußen laute Protestrufe zu hören. Die AfD hielt auf dem Platz vor dem Veranstaltungsort eine Demonstration ab, auf der die Rechten skandierten „Kein Orden für Angela Merkel“.

Schwesig nannte Merkel in ihrer Laudatio eine „herausragende Persönlichkeit“, „große Staatsfrau“ sowie „prägende Politikerin unserer Zeit“, die als Verbündete „unschätzbar wertvoll“ und als Gegnerin „kaum zu überwinden“ gewesen sei – „ein echter Glücksfall für unser Land“.

Ob Merkel auf einem Parteitag der CDU heute so beschrieben würde? Wohl kaum. Der CDU-Fraktionsvorsitzende Jens Spahn gratulierte Merkel unlängst zum Geburtstag, indem er ihre Fehler aufzählte: die Migrationspolitik, der Atomausstieg, der blauäugige Umgang mit Russland.

Jens Spahn und Angela Merkel © dpa

Kritik aus den eigenen Reihen schreckt Merkel nicht ab. Ihre neue öffentliche Rolle spielt sie dabei in den letzten Monaten systematischer, als es auf den ersten Blick scheint.

Als die schwarz-rote Koalition im Juni ihr erstes Gesetz zur Begrenzung der Migration durch den Bundestag bringt, trifft Merkel sich – von Kameras des WDR begleitet – mit syrischen Flüchtlingen in einem Restaurant.

„Wir reden immer viel über Menschen, die zu uns kamen, aber nicht mit den Menschen, die zu uns kamen“, sagte sie dem WDR. Parallel dazu verabschiedeten die Abgeordneten im Bundestag eine befristete Aussetzung des Familiennachzugs bei Geflüchteten mit eingeschränktem Schutzstatus.

Seit Merz´ Laudatio zu Merkels 70. Geburtstag ist gefühlt weit mehr als ein Jahr vergangen. Die Gräben zwischen der Merkel-CDU und der von Merz haben sich vertieft. Von Harmonie, selbst einer inszenierten, kann keine Rede mehr sein.

Inzwischen gibt sich auch Merz kaum Mühe mehr, den Unfrieden in der Union zu verbergen. Zuletzt wurde er auf einer Veranstaltung im Juli zum 100. Geburtstag der Holocaustüberlebenden Anita Lasker-Wallfisch zu seiner Vorgängerin befragt. Eine Journalistin wollte wissen, ob er Merkel auch in diesem Jahr zum Geburtstag gratuliert habe.

„Natürlich habe ich ihr gratuliert“, antwortete der Kanzler. Einen Seitenhieb in Richtung Merkel konnte sich Merz dann aber doch nicht verkneifen. Er fügte hinzu: Wenn Merkel eines Tages so wie Lasker-Wallfisch Hundert werden sollte, „werde ich natürlich auch öffentlich gratulieren“. Dann, im Jahr 2054, wäre Merz 98 Jahre alt. Es gibt elegantere Arten, zu sagen: „Nie im Leben.“ Und klarere.

Dauerhaft wird er dem offenen Konflikt mit seiner Vorgängerin nicht ausweichen können.

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