Ralph Treitz
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China

Der Irrweg der deutschen China-Politik

Die Absage von Außenminister Wadephuls Chinareise offenbart die strategische Ratlosigkeit Berlins im Umgang mit China. Ein Plädoyer für pragmatischen Realismus von China-Experte Prof. Eberhard Sandschneider.
Prof. Eberhard Sandschneider
01.11.2025

Die Überraschung war groß, als Außenminister Johann Wadephul seine erste Chinareise nach einer langen Anlaufphase zwei Tage vor dem geplanten Antritt am Montag absagte.

Die Begründung seines Hauses: Es habe zu wenig Terminzusagen aus China gegeben. Hinter den Kulissen heißt es, die chinesische Regierung habe die Bedingung gestellt, dass er die Kritik am chinesischen Regime einstellen solle. Wenn jemand erstmals zu Besuch kommt, möchte man nicht vorher von ihm beschimpft werden, lautet der Tenor der chinesischen Position.

Wer auf Dialog angewiesen ist, sollte diplomatische Affronts vermeiden. Die offiziell nur verschobene Reise fügt den Irrwegen deutscher Chinadebatten eine weitere Wendung hinzu. Sie irritiert einen der wichtigsten außenpolitischen Partner Deutschlands und führt offensichtlich auch in der Koalition zu Irritationen.

Davon zeugt, dass Vizekanzler Lars Klingbeil kurz darauf eine eigene Reise nach China im November bekannt gab. Und sie wirft die Frage auf, wie Deutschland mit dem zunehmend selbstbewusst auftretenden China strategisch umgehen sollte.

Strategisch sinnvolle und den deutschen Politik- und dienende Außenpolitik sieht jedenfalls anders aus. Wadephuls Absage war ein Fehler, der von Teilen der deutschen Presse zurecht als weiterer Tiefpunkt in den bilateralen Beziehungen nach dem Desaster Baerbock’scher Außenpolitik bezeichnet wurde.

Die Irrwege deutscher Chinapolitik

Symbolische Gesten sind wichtig, wenn man versucht, eine Atmosphäre zu schaffen, die es ermöglicht, die eigentlich wichtigen und schwierigen Themen ansprechen zu können. Wadephul ist nun fast ein halbes Jahr im Amt, hat China aber bislang keinen Antrittsbesuch abgestattet, den man dort sicherlich früher erwartet hätte.

Symbolisch bedeutsam reiste der deutsche Außenminister in andere asiatische Länder und lässt keine Gelegenheit ungenutzt, China auf der internationalen Bühne für Dinge zu kritisieren, auf die er selbst eigentlich keinen Einfluss hat. Es sei denn, man glaubt, dass die Durchfahrt einer deutschen Fregatte durch die Taiwanstraße tatsächlich etwas bewirken kann.

Johann Wadephul mit Außenminister Takeshi Iwaya in Tokio, 18.8.25  © Imago

Am 18. September – in China ein wichtiger Gedenktag zum Beginn der japanischen Invasion in China – kritisierte Wadephul in Japan unter anderem: China „ignoriere das Seevölkerrecht im südchinesischen Meer.“ Eine unnötige Provokation Chinas und strategisch unklug.

Wadephuls Besuche in Japan, Indonesien und Indien dürften der Suche nach Verbündeten gegen China dienen. Allerdings musste Wadephul eine unliebsame Erfahrung machen: Keiner seiner Gesprächspartner hat kooperativ reagiert. Diese Staaten haben zwar ihre Probleme mit China, aber auch ihre eigenen Interessen. Und die decken sich nicht mit den Erwartungen Wadephuls.

Anzunehmen, dass Staaten wie Indien – nur weil es sich formal um die größte Demokratie der Welt handelt – mit westlichen Demokratien gleiche oder auch nur ähnliche Interessen haben, ist naiv. Indien folgt ausweislich seiner Politik gegenüber Russland seinen eigenen Interessen.

Wer von guten Wirtschaftsbeziehungen mit China, einschließlich der Lieferung von wichtigen Ressourcen, abhängig ist, tut gut daran, keine Megaphon-Politik gegenüber der Regierung dieses Landes zu betreiben. So kann man den notwendigen Dialog verhindern, bevor er überhaupt begonnen hat.

Gerade China achtet auf die Zwischentöne der Diplomatie. Ausgerechnet in einer der terminintensivsten Wochen in Ostasien – ASEAN Gipfel, APEC Gipfel, Trump-Besuch und Treffen mit Xi Jinping – wollte Wadephul den Besuch in China nachholen.

Sein Amtskollege Wang Yi hat Deutschland übrigens bereits im Juli besucht. China gab sich offensichtlich der Hoffnung hin, dass mit dem Wechsel im Amt auch ein Wechsel der Politik gegenüber China möglich sein könnte. Doch beabsichtigt oder nicht, Wadephul verstärkt den Eindruck, dass er die von China als respektlos empfundene Belehrungspolitik seiner Vorgängerin in der Tendenz fortsetzen möchte.

© dpa

Für deutsche Außenpolitik ist das ein verheerendes Signal. Die Fortsetzung der Naivität mit den gleichen Mitteln. Falls Wadephul eine Vorstellung von einer eigenen Chinapolitik haben sollte, ist diese gescheitert, bevor sie überhaupt begonnen hat.

Statt geopolitische und geoökonomische Realitäten anzuerkennen, hat sich die Debatte auf eine Worthülsenpolitik verlagert. Die Chinastrategie der letzten Bundesregierung belässt es bei der vielzitierten Trias aus „Partner, Wettbewerber und systemischer Rivale“. Im Schatten dieser Nomenklatur haben sich Deutschland und Europa auf das Thema „De-Risking“ reduziert. Was das für Unternehmen konkret bedeutet, bleibt im Nebel der Schlagwortpolitik verborgen.

Vom Umgang mit einer selbstbewussten Supermacht

Nach Jahrhunderten relativer Schwäche ist China heute wieder zu einer globalen Großmacht aufgestiegen. Nach dem Zweiten Weltkrieg war das China von Mao Zedong ein armer Bauernstaat, der regelmäßig von Hungersnot geplagt wurde. Unter Deng Xiaoping erfolgte eine marktwirtschaftliche Reformpolitik, die dem Kommunismus seine traditionelle Ideologisierung entrissen hat.

Zu Beginn des neuen Jahrtausends war China mit einem Anteil am globalen Bruttosozialprodukt von knapp drei Prozent bereits die siebtgrößte Volkswirtschaft der Welt. 25 Jahre später ist China eine Wirtschaftsmacht und hinter den USA die zweitgrößte Volkswirtschaft des Globus.

Eine Infografik mit dem Titel: China: Das Megawachstum

Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts von China und Deutschland, in Billionen US-Dollar

China war 2024 Deutschlands zweitwichtigster Handelspartner, aber nur knapp hinter den USA auf Platz 1. Was die Importe nach Deutschland angeht, liegt China unangefochten vorn.

Eine Infografik mit dem Titel: Handelspartner: USA und China vorn

Volumen des deutschen Außenhandels im Jahr 2024, in Milliarden Euro

Das Land besitzt die größten bisher förderbaren Mengen an Seltenen Erden und weiß diesen Hebel auch für sich einzusetzen – vor allem gegen Trumps Zollkrieg. Stichwort: Exportbeschränkungen für Seltene Erden. Als China die Ausfuhr von Nexperia-Produkten, darunter Chips für die Autoindustrie, stoppte, drohten beim wichtigsten deutschen Autohersteller Volkswagen Produktionsstopps.

Eine Infografik mit dem Titel: Seltene Erden: Chinesische Dominanz

Anteil der weltweiten Produktion von Seltenen Erden

Das prägt auch das Selbstbewusstsein und das globale Auftreten Chinas. Das mag uns nicht gefallen, aber mit diesen neuen Realitäten der Geopolitik im 21. Jahrhundert werden wir leben müssen und mehr noch: Wir werden lernen müssen, dieses China mit anderen Augen zu sehen.

Zur Naivität der deutschen Chinapolitik gehört, dass wir China seit 40 Jahren in seinen strategischen Ambitionen falsch eingeschätzt haben. Immer wieder mussten wir feststellen, dass China weder eine westliche Demokratie werden will, noch zwangsläufig westliche Werte übernimmt und sich schon gar nicht westlichen Vorstellungen zu seinen strategischen Interessen unterwirft.

Ein besonders aktuelles Beispiel: Von China zu verlangen, dass es seine Unterstützung für Russland im Ukrainekrieg aufgibt, vielleicht sogar auf Russland Druck ausüben solle, um größere Kompromissbereitschaft von Russland zu erwirken, ist aus europäischer Sicht nachvollziehbar – und doch nicht zielführend. Denn es würde bedeuten, die strategischen Kerninteressen Chinas, die nun einmal darin bestehen, dass Russland diesen Krieg nicht verliert, zu verkennen. Daher gehört es auch zu den Grundelementen diplomatischer Kompetenz, im richtigen Moment zu schweigen.

Der Fokus vieler Kritiker, die sich mit China beschäftigen, liegt auf der Demokratie in Hongkong, der Verfolgung der Uighuren und Tibeter, der Bedrohung Taiwans oder den Machtspielen im Südchinesischen Meer. Und nun kommt auch noch die Ausfuhrkontrolle für Seltene Erden hinzu. Doch die Frage, die sich stellt, lautet: Was ist die Konsequenz einer einseitigen Betrachtung Chinas?

Eindämmung, Ausgrenzung und immer mehr Sanktionen sind eher ein Ausdruck der eigenen Hilflosigkeit als ein machtpolitisches Druckmittel. Von China lernen zu wollen, fällt uns notorisch schwer. Ironischerweise kann man jedoch genau aus Chinas Geschichte seit dem 15. Jahrhundert lernen, dass der Verlust der eigenen Innovationsfähigkeit und der Ruf nach Protektion gesichert in den Weg zum Abstieg führen.

China selbst war Mitte des 15. Jahrhunderts eine technologisch führende Weltmacht und verfügte über das Globalisierungsinstrument einer beeindruckenden Hochseeflotte. Nach einem Palastcoup wurde diese Flotte abgeschafft und stattdessen mit dem Bau einer gigantischen Mauer begonnen. Zeitgleich begann der kontinuierliche Abstieg Chinas, bis Deng Xiaoping im Jahr 1978 mit seiner Reformpolitik die gegenteilige Entwicklung einleitete.

Die chinesische Mauer. © imago

Das heißt nicht, dass China keine Dinge tut, die uns missfallen oder kritik- und veränderungsbedürftig sind. Das muss man auch ansprechen. Verlogenheit und Schmeichelei sind keine Alternative. Sie werden übrigens in China auch nicht geschätzt.

Wer mit Respekt und ohne Schaum vor dem Mund seine eigenen Interessen artikuliert, findet in China sicher nicht automatisch Zustimmung, aber mit hoher Wahrscheinlichkeit aufmerksame und diskussionsbereite Zuhörer. Das gilt auch für die Kommunistische Partei.

Nun wäre es naiv anzunehmen, dass nur durch nette Gespräche die vielfältigen Interessenkonflikte mit China zu lösen wären. Es braucht auch den Willen und die Fähigkeit, die eigene Politik mit strategischer Entschlossenheit zu unterlegen.

Die vielbeschworene Debatte um Abhängigkeiten von China verkennt häufig, dass diese Abhängigkeiten gegenseitig sind – einmal abgesehen von der Tatsache, dass sie in der Vergangenheit Grundlage unseres (gemeinsamen) wirtschaftlichen Erfolgs waren. Hier kann eine interessengeleitete Außenpolitik strategisch ansetzen.

Auch chinesische Firmen brauchen Zugänge zu globalen Märkten, einschließlich des deutschen, weil die binnenwirtschaftliche Konsumnachfrage offensichtlich nicht ausreicht, um das angestrebte Wachstum zu verstetigen.

Ein Plädoyer für strategischen Pragmatismus

Die deutsche Wirtschaft setzt mehrheitlich trotz aller Probleme erkennbar auf die Vertiefung der Zusammenarbeit mit dem größten Absatzmarkt der Welt. Allerdings beobachtet man auch hier einen drohenden Kipppunkt. Aus der Unfähigkeit, im innovativen Wettbewerb zu bestehen, entsteht der Hang, nach der Politik, also nach Protektion zu rufen. Die Politik muss sich erst noch entscheiden: zwischen Dialog und Konfrontation.

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Veröffentlicht von Jonathan PackroffChristian Schlesiger.

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Damit müsste man anfangen: Wir müssen lernen, China genauso intensiv und detailliert zu lesen, wie China uns liest. Vor 40 Jahren gab es in Deutschland kaum Zugriff auf Daten aus China, es war kaum möglich, zu wissen, was hinter den Mauern des chinesischen Regierungsviertels Zhongnanhai passiert. Heute überschüttet uns China mit (in der Regel politisch frisierten) Zahlen. Doch am Ende müssen wir feststellen, dass wir über die Intentionen, Probleme und Machtkämpfe an der Spitze der Kommunistischen Partei genauso wenig wissen wie damals.

Entscheidend ist nicht, welches China wir gerne hätten. Entscheidend ist, mit welchen Interessen Chinas wir zur Förderung unserer eigenen Interessen am besten zusammenarbeiten können. Beispielsweise berührt das die Möglichkeit, gemeinsam gegen die Zoll-Erpressungen Trumps vorzugehen. Von gemeinsamem Interesse ist es auch, dass globale Märkte offen bleiben. Davon haben China und Deutschland in der Vergangenheit am stärksten profitiert.

Damit wir unsere Interessen artikulieren können, braucht es den Dialog. Das ist nie ein Vergnügen, schon gar nicht, wenn man auf ein Land mit dem wachsenden Selbstbewusstsein Chinas stößt.

Es führt kein Weg an der Einsicht vorbei, dass China in den vor uns liegenden Jahren und Jahrzehnten zu einem noch relevanteren Wettbewerber werden wird. Jedes deutsche Unternehmen wird sich darauf einstellen müssen, dass dieser Wettbewerb auf dem chinesischen Markt, auf Drittmärkten und auch auf unseren Heimatmärkten härter werden wird.

Es wäre aber falsch, den Versuch zu unternehmen, diesen Wettbewerb durch Blockaden, durch Protektionismus und eine zunehmend transaktionale Außen- und Wirtschaftspolitik blockieren zu wollen.

Denn unsere wirtschaftliche Schwäche ist nicht die Schuld Chinas. Stattdessen sollten wir uns der Herausforderung stellen und begreifen, dass erfolgreicher Wettbewerb zu allen Zeiten die Triebkraft von Fortschritt und Entwicklung war.

Eine Infografik mit dem Titel: Innovationsmuffel Deutschland

Gesamtzahl der Patentanmeldungen* aus China, USA und Deutschland von 1980 bis 2023

Man mag einwenden, das sei blanker Realismus. Das ist in der Tat so. Aber in Zeiten wie diesen ist ein realistischer und pragmatischer Blick ohne Alternative. Auch wenn es uns nicht gefällt: Weltpolitik ist interessengetriebene Machtpolitik.

Verlassen können wir uns immerhin auf die Pragmatik der Chinesen. Sie werden auch mit Wadephul zur Tagesordnung übergehen. Baerbock musste monatelang auf ihren letzten offiziellen Besuchstermin warten, bei Wadephul wird es wohl nicht so lange dauern. Immerhin reist jetzt der deutsche Vizekanzler nach China. Lars Klingbeil hat die Chance, es strategisch besser zu machen und sich für die deutschen Interessen einzusetzen.

Prof. Sandschneider: „China: das Zauberwort heißt Respekt.”

Gabor Steingart präsentiert das Pioneer Briefing.

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Veröffentlicht in The Pioneer Briefing Business Class Edition von Gabor Steingart.

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