Stefan Kerth

„Die Brandmauer macht jeden Kurswechsel unmöglich“

Stefan Kerth war Landrat für die SPD im Landkreis Vorpommern-Rügen. Dann trat er aus der SPD aus und wurde als parteiloser Landrat wiedergewählt. Nun fordert er Richtung CDU: Sie muss die Brandmauer gegen die AfD fallen lassen. Sie schade der Demokratie.
Nils Heisterhagen
01.10.2025
© Imago
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The Pioneer: Herr Kerth, Sie haben gerade mit einem vielbeachteten Video für Aufsehen gesorgt, in dem Sie die CDU auffordern, ihre „Brandmauer“ zur AfD aufzugeben. Warum dieses Video?

Stefan Kerth: Mich treibt die Sorge um, dass wir tagtäglich Boden verlieren. Mit jeder weiteren unkontrollierten Einbürgerung, mit jedem politischen Stillstand, mit der weitergehenden Wirtschaftskrise schwinden Chancen für die nächste Generation. Deutschland war zum Beispiel einmal ein Land, das weltweit für sozialen Frieden und Sicherheit auf den Straßen bewundert wurde. Sichere Abendspaziergänge in Großstädten sind aber bei der, auch durch Migration verursachten, Sicherheitslage nicht immer durchgehend möglich. Auch der Sozialstaat, den werden meine Kinder nicht mehr kennenlernen. Der ist so nicht mehr finanzierbar. Und das hat mich dazu veranlasst, Klartext zu sprechen.

Was bröckelt genau?

Ich sehe, dass das Fundament unseres gesellschaftlichen Friedens bröckelt. Zehn Jahre nach den großen Zuwanderungswellen hat sich politisch kaum etwas geändert – keine Lernkurve, keine Strategie. Diese ganzen Videos und Ansprachen zu zehn Jahren „Wir schaffen das“ haben mich verärgert und fassungslos gemacht.

Wie wenig man die Realität anerkennt und wie wenig man die Probleme, die es einfach gibt, anspricht. Wir verlieren unsere Lebensweise. Das Land wird instabil, ist bereits instabil. Und das Verhinderungsmonopol der linken Parteien sorgt dafür, dass einfach nichts passiert.

Mit der Brandmauer wird es nicht funktionieren. Mit jedem Tag, an dem wir nicht gegensteuern, vor allem bei der Migration und inneren Sicherheit, mit jedem Tag, an dem wir einfach Leute weiter einbürgern, die nicht zu unserem Land passen, wird die Lage für kommende Generationen schwerer.

Stefan Kerth ist Landrat des Landkreises Vorpommern-Rügen.  © dpa

Was sind denn Ihre Gründe dafür, dass die CDU die Brandmauer fallen lassen muss?

Ich halte die Brandmauer für nicht mehr zeitgemäß. Erstens: Das systematische Schöngerede der Migrationspolitik geht einfach weiter. Die CDU will mehr machen, härter sein, aber mit der politischen Linken an ihrer Seite geht einfach nicht mehr. Die Brandmauer macht jeden Kurswechsel unmöglich. Und das muss enden. Genau deswegen zerstört die Brandmauer die Demokratie, statt sie zu retten. Die CDU muss sich vom Verhinderungsmonopol der linken Parteien befreien.

Ich bin Demokrat, ein ehemaliger Sozialdemokrat, heute parteiloser Landrat hier im schönen Landkreis Vorpommern-Rügen – und wurde übrigens in der Stichwahl gegen die AfD von allen Demokraten unterstützt und habe klar gewonnen. Aber mir wäre lieber, wenn die linken Parteien, etwa so wie die Sozialdemokratie in Dänemark, andere Politik machen würden. Das wäre für alle besser. Ich habe aber keine Hoffnung mehr, dass die Realität von der politischen Linke verstanden wird. Daher muss die CDU jetzt neu denken.

Wir schulden der deutschen Geschichte aber sorgsam über diese Frage zu diskutieren. Es muss abgewogen werden. Ich habe das getan und finde: Der Schaden der Brandmauer überwiegt ihren Nutzen. Den Mahnern glaubt man immer weniger. Das zeigen die Erfolge der AfD. Daher steht nur noch zur Debatte: Kurskorrektur jetzt oder gemeinsam mit der AfD regieren.

Viele fragen sich: Warum fordern Sie ausgerechnet die CDU auf, die Brandmauer zu überdenken – und nicht die SPD, Ihre frühere Partei?

Weil ich Realist bin. Von der SPD und den Grünen erwarte ich keine Kurskorrektur. Parteitage zeigen klar: Dort wird das bestehende Narrativ eher noch verstärkt. Eine Lernkurve sehe ich nicht.

Die CDU dagegen besitzt noch eine Restglaubwürdigkeit in dieser Frage. Sie hat ihre Wurzeln in Ordnungspolitik und Realismus – das kann man wieder aktivieren. Ich selbst habe bei der letzten Bundestagswahl mit beiden Stimmen CDU gewählt, weil ich das Gefühl hatte, dass sie in diese Richtung steuern könnte.

Aber wenn Sie eine Zusammenarbeit fordern – halten Sie die AfD in Mecklenburg-Vorpommern oder bundesweit für regierungsfähig?

Meine Aussage geht über einzelne Landesverbände hinaus. Ich sehe: In vielen Ländern der Welt, auch in Europa, regieren national-konservative oder rechte Parteien mit. Das Narrativ, dass dies automatisch in ein totalitäres Regime führt, halte ich intellektuell für nicht haltbar. Deutschland hat seine Vergangenheit so gründlich aufgearbeitet wie kaum ein anderes Land. Ich halte unser demokratisches System für stabil genug, um auch rechte Politik auszuhalten.

Entscheidend ist: Nur durch Einbindung kann die AfD entzaubert werden – nicht durch Ausgrenzung. Die AfD kann auch wieder abgewählt werden. Rechte Parteien werden reihenweise wieder abgewählt. Schauen sie nach Polen. Wenn ein Land es schafft, einer Autokratisierung durch die AfD zu widerstehen, dann Deutschland. Auf die Regierungsbeteiligung der AfD folgt kein direkter Weg zur Gleichschaltung. Wir sind eine wehrhafte, stabile Demokratie. Wir halten auch ein paar Jahre die AfD aus. Auf dem Planeten Erde mache ich mir über ein kein Land weniger Sorgen, in eine Autokratie zu entgleiten.

Kritiker sagen: Man müsse die AfD „demaskieren“ und den Wählern zeigen, dass sie keine Lösungen hat.

Ehrlich gesagt stößt mich dieses Argument inzwischen ab. Zehn Millionen Menschen fühlen sich von den etablierten Parteien nicht mehr vertreten. Wenn wir diese Bürger pauschal als „zu entzaubern“ abtun, verweigern wir ihnen Respekt. Rechte Politik ist Teil des demokratischen Spektrums – nur Rechtsextremismus muss bekämpft werden. Wir haben in Deutschland verlernt, diesen Unterschied zu machen.

Demokratie heißt, Vertrauen in die Urteilsfähigkeit der Bürger zu haben. Das Mahnen und Moralisieren der Linken und ja, auch der Medien, insbesondere des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, haben nichts gebracht. Es war sogar demokratieschädigend. Im Kampf gegen Rechts muss man sich im Übrigen auch an das Recht halten. Insgesamt: Die Brandmauer stärkt die AfD immer weiter. Ich halte es aus diversen Gründen für zielführender, die Brandmauer einzureißen.

Innerhalb der CDU gibt es aber große Widerstände. Viele würden im Falle einer Kooperation mit der AfD sofort austreten. Wie realistisch ist Ihr Vorschlag?

Mir geht es nicht um schnelle Beschlüsse. Ich möchte die Debatte normalisieren. Viele in der CDU denken ähnlich, trauen sich aber nicht, es offen zu sagen. Wenn Menschen mit Amt, Erfahrung und ohne Skandale diese Diskussion eröffnen, wird sie gesellschaftlich anschlussfähig. Natürlich entscheidet die CDU nicht wegen eines Landrats, aber wir brauchen eine neue Ehrlichkeit: Mit der SPD und den Grünen wird es keine echten Lösungen in der Migrationspolitik geben. Das zeigt schon die sogenannte „Asylwende“ in Berlin, die kaum mehr als Symbolpolitik ist. Ich möchte ein Wegbereiter sein für diejenigen Leute, die neu denken wollen. Es gibt sehr, sehr viele, die sich in der Diskussion damit überhaupt nicht raustrauen.

Ich will die liberale Demokratie retten. Demokratie heißt aber auch: Politik für das Volk machen und sich dem demokratischen Wettbewerb stellen und ihn aushalten. Mir ist egal, wenn niemand in Berlin einem Provinz-Landrat zuhören will. Aber ich will denen Mut geben, die das Land auf dem falschen Weg sehen.

Der Kontrollverlust bei der Migration zum Beispiel, ist ein größeres Problem für die Demokratie als die AfD. Klingt hart, ist aber wahr. Die Überlebensfrage für unsere Demokratie ist nicht, ob die AfD mal mitmachen darf, sondern ob der Staat noch funktionsfähig bleibt und der gesellschaftliche Frieden noch aufrechterhalten werden kann.

Der CDU-Intellektuelle Andreas Rödder schlägt vor, statt von „Brandmauer“ von klaren roten Linien zu sprechen. Was halten Sie davon?

Das ist absolut richtig. Eine „bedingungslose Brandmauer“ ist kindisch. Demokratie braucht erwachsene Abwägung: gesinnungsethisch versus verantwortungsethisch. Für mich bedeutet Verantwortungsethik, dass man klare Kriterien formuliert: Welche Positionen sind verfassungsfeindlich, welche nicht? Statt pauschal „nie mit der AfD“ oder „nie mit den Linken“ zu sagen, muss man prüfen, wo inhaltlich eine Zusammenarbeit möglich ist – und wo nicht. Die jetzige Debatte zeigt eher geistige Einfachheit als politische Reife.

Vielen Dank für das Gespräch.

Prof. Andreas Rödder: „Rote Linien statt Brandmauern“

Wege zur Regierungsfähigkeit rechts der Mitte.

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Veröffentlicht von Gabor Steingart.

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