Interview mit Timo Lochocki

„Die größte Gefahr sind Kulturkämpfe“

Er ist Visiting Professor am Bard College Berlin und war Planungschef bei Jens Spahn im BMG. Nun hat Timo Lochocki ein neues Buch geschrieben. In „Deutsche Interessen“ entwirft er das Bild einer unsicheren, aber großen Zukunft für Deutschland – und warnt vor Gefahren.
Nils Heisterhagen
28.09.2025

The Pioneer: Herr Lochocki, Ihr Buch trägt den Titel Deutsche Interessen. Was sind deutsche Interessen heute?

Timo Lochocki: Deutsche Interessen gab es schon immer. Lange konnten wir sie im Gleichklang mit den USA, Großbritannien und Frankreich wahren – die drei großen liberalen Demokratien waren zugleich unsere Schutzmächte. Doch mit dem Aufstieg autoritärer Kräfte in diesen Ländern – Trump in den USA, der Rassemblement National in Frankreich, Reform in UK– droht dieser Gleichklang zu zerbrechen. Plötzlich stehen wir vor der Situation, dass Rechtsstaatlichkeit, Freihandel oder militärische Kooperation nicht mehr selbstverständlich transatlantische Anliegen sind, sondern genuin deutsche Interessen.

Deutschland hat sich lange schwergetan, eigene Interessen überhaupt zu definieren. Warum jetzt?

Diese Zurückhaltung war schon lange überholt. Deutschland ist seit Jahrzehnten eine stabile Demokratie. Heute gilt sogar: Wir sind die stärkste liberale Demokratie weltweit – schlicht, weil die USA keine stabile liberale Demokratie mehr sind und andere Demokratien weniger Ressourcen mobilisieren können. Mit der EU im Rücken hat Deutschland mehr Machtpotenzial als Frankreich oder Großbritannien.

In Ihrem Buch klingen Sie optimistisch, dass Deutschland zur stärksten Demokratie der Welt werden kann. Wie kommen Sie zu dieser Zuversicht?

De facto sind wir es schon, weil die USA diesen Status verloren haben. Drei Faktoren geben mir Hoffnung. Erstens: Deutschland investiert wieder massiv – dank gelockerter Schuldenbremse und neuer fiskalischer Spielräume wie dem Sondervermögen. Zweitens: Unsere Gesellschaft ist trotz Streitpunkten wie der Brosius-Gersdorf-Debatte vergleichsweise konsensfähig. Drittens: Wir befinden uns in einer Wirtschaftskrise – in Deutschland traditionell ein Ausgangspunkt für große Reformen.

Sie schreiben, Deutschland könne das „neue Amerika“ werden. Was meinen Sie?

Das „neue Amerika“ heißt: Schutzmacht und moralischer Leitstern für andere Demokratien zu sein. Natürlich bleiben die USA ressourcenstärker, aber Deutschland kann militärisch massiv aufrüsten – notfalls auch nuklear, alleine oder mit Partnern. Vor allem kleinere Demokratien in Osteuropa oder Skandinavien suchen nach einem verlässlichen Anker. Diese Rolle können wir übernehmen.

Aber die USA haben ihre Vormachtstellung immer auch durch technologische Überlegenheit manifestiert. Kann Deutschland da mithalten?

Technologieführerschaft ist entscheidend. Sie hängt direkt von Investitionen ab. Deutschland muss seine fiskalischen Spielräume konsequent nutzen – durch eine weitergehende Reform der Schuldenbremse und weitere gezielte Staatsinvestitionen, gemeinsam mit Partnern in Nord- und Mitteleuropa. Nur so können wir in Schlüsseltechnologien auf Augenhöhe mit China und den USA bleiben.

Welche Hindernisse sehen Sie auf diesem Weg?

Die größte Gefahr sind Kulturkämpfe. Wenn die jüngsten Auseinandersetzungen im Sommer um die Richterwahl nur ein Ausrutscher waren, können wir uns auf Wirtschaft und Reformen konzentrieren – dann blüht uns eine goldene Zukunft. Falls sich der Kulturkampf (der ist ja mittlerweile bei diversen Themen aktiv) aber verfestigt, wird Deutschland keine Renaissance erleben.

Welche Reformen braucht es konkret neben der Reform der Schuldenbremse?

Drei Dinge sind zentral. Erstens: Eine Steuerreform, die untere Einkommen und Unternehmer entlastet und Investitionen stärkt. Zweitens: Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts – etwa durch eine Reform des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und verpflichtende Gesellschaftsjahre für alle, um analoge Begegnungen zu fördern. Drittens: Militärische Führungsrolle – Deutschland muss zur militärischen Führungsmacht Europas werden, inklusive nuklearer Abschreckung.

Bedeutet das, Deutschland braucht die Atombombe?

Deutschland muss sicherstellen, dass die verbliebenen liberalen Demokratien über eine eigene nukleare Abschreckung verfügen. Möglich wären gemeinsame Projekte mit Briten oder Franzosen – doch falls das scheitert, muss Deutschland auch über eine nationale Komponente nachdenken.

Herr Lochocki, vielen Dank für das Gespräch.

Mehr Informationen zu seinem Buch im Herder-Verlag „Deutsche Interessen. Wie wir zur stärksten Demokratie der Welt werden – und damit den liberalen Westen retten“ gibt es hier

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Veröffentlicht von Stephan-Götz Richter.

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