Das beste Beispiel sind vielleicht Reiswaffeln. „Reiswaffeln sind ein leckerer, knuspriger Snack, der aus gepufftem Reis hergestellt wird“, sagt die Google-KI und, das muss man so sagen, lügt. Knusprig, ja, aus gepufftem Reis, ja, aber lecker?
Reiswaffeln sind der Snack einer Gesellschaft, die den Genuss verlernt hat. Oder zumindest versucht, ihn sich abzutrainieren. Reiswaffeln schmecken im besten Fall nach nichts und im schlechtesten Fall nach süßer Luft, die uns schadenfroh ins Gedächtnis ruft, was uns eigentlich schmecken würde.
Die Reiswaffel will eine Süßigkeit sein, ist aber eine staubig-klebrige Traurigkeit, die nach einem Tag an der Luft nicht anders schmeckt als Schuhsohle. Ihr einziger Existenzzweck ist, dass man eigentlich gern etwas anderes essen würde, etwas nämlich, das schmeckt. Das zu essen, wir aber aus ästhetischen Gründen (die Figur) oder gesundheitlichen Gründen (der Blutzucker) unterlassen. Wir sehnen uns nach Sachertorte und greifen nach der Reiswaffel. Und verkaufen uns das als zivilisatorischen Fortschritt.
Die Reiswaffel © dpaWie ist das passiert? Wie konnten wir von Datteln und Feigen, Beeren und Birnen, von Torten und Petit-Fours kommend bei Reiswaffeln landen?
Nun, vermutlich, weil die hochentwickelte Welt in Genuss-Fragen vom Pfad abgekommen ist. Alle „achten auf ihre Gesundheit“, womit sie meinen, dass sie auf Diät sind, aber Diät sagt heutzutage kein Mensch mehr, weil es so streng und nach Verzicht klingt. Der moderne Mensch möchte aber nicht als streng gelten und verzichten tut er schonmal gar nicht (das tun schließlich nur die Grünen). Der moderne Mensch lebt einfach bewusst. Bewusst auf Diät, aber erlauben wir uns ein wenig Nachsicht.
Wir essen also so wenig Kohlenhydrate wie möglich, fasten Intervall, frühstücken Ei und Avocado, nehmen allerlei Pülverchen und Nahrungsergänzungsmittel zu uns, sprühen uns Melatonin auf das Kopfkissen, um schlafen zu können und trinken am Morgen einen halben Liter Matcha-Latte, um fit zu sein.
Alles, was uns „nicht gut tut“, streichen wir konsequent aus unserem Leben: Alkohol, raffinierten Zucker, Weißmehl, den toxischen Onkel. Und wer raucht, der wird so gut es geht aus jedem Zentimeter öffentlichen Raum verbannt, denn der scheint ja mal gar nichts verstanden zu haben.
Das alles hilft uns – und sogar anderen. Wir sind leistungsfähiger im Job (wichtig). Wir verbringen beim Hot-Yoga endlich wieder Zeit mit dem Lebensgefährten (unter Umständen sogar hot). Wir sind gute Vorbilder für unsere Kinder. Und weil wir hin und wieder Hummus statt Guacamole essen, tragen wir, das kann man schon so sagen, finden wir, auch zur Rettung des Planeten bei. Gut, es gibt die altmodischen Kollegen, die genervt davon sind, dass wir uns in die Video-Meetings vom Laufband aus dazu schalten, aber irgendwo müssen die 10.000 Schritte ja herkommen.
Dieses moderne Leben, es macht uns schön, schlank, erfolgreich, gesund. Und es lässt uns verkümmern. Entfernt es uns doch von dem, was das Leben ausmacht.
Obwohl er ein Kind der Aufklärung war, schrieb der französische Moralist und Dramatiker Nicolas Chamfort (1741 - 1794):
Durch die Leidenschaft lebt der Mensch, durch die Vernunft existiert er bloß.
Ein Leben, das sich allein dem Vernünftigen, dem Richtigen und Gesunden widmet, ist ein Leben light. Dass wir immer mehr in die Rationalisierung unserer selbst investieren ohne, dass es einen Aufschrei gibt, hängt sicherlich auch damit zusammen, dass es dem (kapitalistischen) System nutzt. Wir werden produktiver und verursachen weniger Schaden.
Allerdings liegt in der weiteren Optimierung unseres Lebens auch eine Gefahr – nicht nur für Lebensfreude, sondern auch für Demokratie.
Beschäftigt mit dem Beschäftigtsein
Eigentlich ist es ein Widerspruch. So vieler Bürden hat sich der moderne Mensch entledigt. Das Leben ist komfortabler, sicherer, gesünder, länger denn je. Wir hätten Zeit und Muße, es zu genießen. Es zu schmecken, zu fühlen, riechen, hören, es zu sehen.
Doch wir sind beschäftigt mit dem Beschäftigtsein. Jede Sekunde, die uns gehört, prüfen wir darauf, was wir in ihr erledigen können, ohne sie zu verschwenden. Als verschwendet verstehen wir Zeit dann, wenn sie ungenutzt bleibt. Als ungenutzt dann, wenn sie nicht in Produktivität mündet.
„We call ourselves human beings“, sagt der Meditations-Experte Jon Kabat-Zinn, „but we should call us human doings.“ Wir sind Tuende und weniger Seiende, bemerkt er. Und was wir tun, das soll im Multipurpose-Zeitalter am besten gleich mehreren Zwecken dienen.
Unser Essen soll uns nicht nur schmecken und sättigen, sondern uns gesund halten, unserer Langlebigkeit zutragen, unsere Haut verschönern, uns Energie geben. In Running Clubs sollen wir durch das Joggen unseren Körper trainieren und gleichzeitig nützliche Kontakte für Berufs- und Privatleben knüpfen. In der Bahn erwarten wir eine gute Internetverbindung, weil wir nicht nur auf Reisen sind, sondern von unterwegs arbeiten. Und auch im Taxi blicken wir nicht aus dem Fenster, sondern beantworten E-Mails.
Eine Welt, in der niemand Zeit und jeder Stress hat. © dpaJeder erst durch Industrialisierung, dann durch Digitalisierung hinzugewonnene Komfort wird nicht genossen, sondern genutzt.
Warum eigentlich? Denn es könnte auch anders sein.
Wir könnten an einem Mittwochabend nach Hause kommen, mit der Familie ein zumindest mal Zwei-Gänge-Menü kochen und – Achtung – schlemmen. Menschen könnten wir kennenlernen, indem wir ihnen zuhören und echte, tiefergehende Gespräche mit ihnen führen. In der Bahn könnten wir einfach nur reisen – das ist mit der Deutschen Bahn bekanntermaßen Herausforderung genug. Im Taxi könnten wir aus dem Fenster schauen und sehen, wie sich unsere Stadt, unser öffentlicher Raum verändert. Und hin und wieder könnten wir auch unsere Mitmenschen anschauen.
Denn in unserer Gegenwart, in der wir auf Effizienz und Funktionalität getrimmt sind, in der Schnelligkeit und Flexibilität herrschen, in der alles nicht nur einen, sondern gleich mehrere Zwecke verfolgt, gerade in dieser Zeit wohnt dem Hedonismus etwas grundsätzlich Aufständisches inne. Eine Weigerung. Ein störendes Sandkorn im kapitalistischen Getriebe.
Sich seiner Freude hinzugeben – als Selbstzweck – ist ein revolutionärer Akt in einer Welt, in der niemand Zeit und jeder Stress hat.
Hedonismus ist nicht nur der rauschhafte Genuss, nicht nur dionysische Ekstase, sondern auch bewusster Stillstand. Nicht nur Buttercremetorte und Champagner, sondern auch der Blick in den Sternenhimmel. Aber doch, es ist auch Buttercremetorte und Champagner. Denn mit Sternenhimmel und Tagträumen allein wäre Dionysos sicherlich nicht einer der bekanntesten (Halb-)Götter der griechischen Antike. Der Gott des Weines, der Freude, der Trauben, der Fruchtbarkeit, des Wahnsinns und der Ekstase ist die antike Personifizierung von Sex, Drugs and Rock’n’Roll.
Dionysos – römisch Bacchus – links auf dem Thron. © Picture AllianceDer Mensch lebt nicht vom Buchweizen allein.
Wie sieht es aus mit unserem Wahnsinn, unserer Ekstase? Was ist mit einem spontanen Feierabend-Drink? Was mit dem Dinner beim Italiener nebenan, das ausartet?
Nun, Alkohol trinken viele gar nicht mehr, die Nachteile liegen auf der Hand. Manche essen nach 19 Uhr, andere nach 17 Uhr nicht mehr. Wieder andere prinzipiell schon, aber weil ihre vegan-glutenfreie Ernährung nicht unkompliziert ist, haben sie für die Woche bereits vorgekocht und die Buchweizen-Sellerie-Pfanne schmeckt wirklich nicht so übel.
Ist doch eigentlich alles wunderbar: Alle kommen zu einer vernünftigen Uhrzeit ins Bett und wachen ohne Kater und Hüftspeck wieder auf. Was will man mehr? Das Leben, könnte die Antwort lauten.
Der politische Streit an Biertresen, das beste Tiramisu der Welt, der volltrunkene Abend in der Karaoke-Bar, der unvernünftige Kuss, die zufällige Begegnung mit dem einen Bekannten, in den man heimlich verliebt ist. Überhaupt, der Zufall.
Wenn wir uns fragen, was uns während der Covid-Pandemie am meisten gefehlt hat, dann kommen wir sehr wahrscheinlich auf ihn: den Zufall. Das Unerwartete. Das Ungeplante. Was uns zu Lebenden macht in einem Resonanzraum mit anderen. Die Keimzelle der Demokratie ist das sich Zusammenfinden mit anderen– in Solidarität, im Streit, im Dialog, in der Versöhnung.
Aus diesen Momente entstehen die wildesten Träume. Sie sind es, die uns im Mark erschüttern. Uns zum Hinterfragen, zum Neudenken, zum Umordnen bewegen. Aus der Hingabe in den Moment entsteht nicht nur politische Öffentlichkeit, sondern auch Kreativität.
Es ist kein Zufall, dass Dionysos auch der Gott der Schöpfung und der Fruchtbarkeit ist. Aus den zu seinen Ehren in Athen abgehaltenen Festspielen – die sogenannten Dionysien – entwickelte sich das heutige Theater. Auch die Dresdner Semperoper ist Dionysos gewidmet. An der Hauptfassade ist seine Statue zu sehen.
Und anders als viele meinen, ist der dionysche Rausch nicht bloßer Selbstzweck. Dionysos’ Rufname Lysios / Lyaios kennzeichnet ihn als Löser – er entfesselte die Menschen, befreite sie von Sorgen und ließ Mauern einstürzen. Dies ist mehr als individuelle Kontemplation. Dies ist die Conditio sine qua non – die Bedingung ohne die es nicht geht – für die Entwicklung eines politischen Bewusstseins.
Es braucht eine gewisse Form der Gelöstheit, ein gewisses draußen sein, um sich selbst zu erkennen. Wer nur Sorgen hat, nur im Hamsterrad rotiert, einen allein auf Funktionalität oder Überleben geeichten Alltag lebt, dem fehlen Ressourcen, Energie, Zeit, überhaupt die Aussicht auf ein anderes Leben. Unter diesen Umständen kann sich kein demokratischer Souverän entwickeln. Von kultureller Schöpfung und technologischer Innovation mal ganz abgesehen.
Warum aber fällt es uns modernen, mit allen Rechten ausgestatteten Menschen derart leicht, die Ratio der Lust vorzuziehen?
Vielleicht hat die Abkehr vom Hedonismus auch etwas mit der Säkularisierung der Gesellschaften zu tun. Denn mit ihr haben wir nicht nur Gott, Jesus, Moses und sie alle aus unseren Häusern verbannt, sondern auch die religiös begründete Haltung zur menschlichen Sterblichkeit. Und sich seiner Sterblichkeit bewusst zu sein führt nicht nur zu Memento mori, nicht nur zum düsteren Barock, sondern auch zu Carpe diem – Nutze den Tag.
In ihrem Roman „Alle Menschen sind sterblich“ erzählt Simone de Beauvoir die Geschichte von Raymond Fosca, der unter seiner Unsterblichkeit leidet. Als Regine ihn ungläubig fragt, weshalb er darüber nicht überglücklich sei, antwortet er: „Sie können sich das nicht vorstellen: ich werde immer da sein, immer und ewig da.“
Simone de Beauvoir (1908-1986) © dpaDie Sterblichkeit des Menschen gab der philosophischen Strömung um die Existenzialisten (zu denen auch de Beauvoir gehörte) den Anstoß, das Leben bewusster zu gestalten und Verantwortung für die eigene Existenz zu übernehmen. Die Erkenntnis der eigenen Sterblichkeit führt zur Lebensfreude, statt zum Nihilismus. Glücklich sollte der sein, der nicht ewig lebt.
„Es ist ein furchtbarer Fluch“, sagt Fosca über seine Unsterblichkeit, „ich lebe und habe kein Leben. Ich werde niemals sterben und habe doch keine Zukunft. Ich bin niemand. Ich habe keine Geschichte und kein Gesicht.“
Ist dem modernen Menschen also die Ahnung ob seiner eigenen Sterblichkeit abhanden gekommen und daher hat er verlernt, das knapp bemessene Leben zu genießen?
Vernünftig ist sicher
In jedem Fall ist dem modernen Menschen irgendwann aufgefallen, dass das vernünftige Leben auch das sicherere ist. Es verwundert nicht, dass wir ausgerechnet im globalisierten, in seiner Komplexität überfordernden modernen Zeitalter einen Hype um Rituale erleben.
Niemand putzt sich heutzutage einfach die Zähne, schminkt sich abends ab und geht ins Bett. Stattdessen haben wir Morning-Rituale, Beauty-Rituale und Schlaf-Rituale. Wo uns die religiösen Rituale abhanden kommen, nehmen wir dankbar jedes weltlichen an. Um uns einzuhegen.
Denn wir Menschen scheinen dazu zu tendieren, zu übertreiben. Und auch der Hedonismus erquickt uns nur in Dosen. In der Überdosis vergiftet er uns. Trinksucht, Völlerei, Dekadenz. Und unsere Moderne, sie verleitet zum obszönen Übermaß.
Süßigkeiten – en masse © dpaWir leben in einer Welt, in der wir unsere Schränke bis zum Bersten mit unzähligen Schokoladen, Karamellen, Puddings und Pralinen füllen können. Diesem Überfluss begegnen wir mit einem Unterfluss an Genuss. Weil wir jederzeit und ständig snacken können, haben wir Reiswaffeln erfunden.
Vielleicht also liegt der richtige Weg in einem von Friedrich Nietzsche vorgezeichneten: in der Bipolarität des apollinisch-dionysischen. Das Begriffspaar wurde zwar von Friedrich Wilhelm Joseph Schelling aufgestellt, durch Nietzsche aber erst ausgebaut und popularisiert.
Apollinisch-dionysisch beschreibt zwei gegensätzliche Charakterzüge des Menschen und bedient sich in der Namensgebung der Eigenschaften, die den griechischen Göttern Apollon und Dionysos zugeschrieben werden. Apollinisch steht für Form und Ordnung, dionysisch für Rauschhaftigkeit und einen alle Formen sprengenden Schöpfungsdrang.
Dazu schreibt Nietzsche in seinem Werk Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik:
Diese beiden Triebe, der apollinische und der dionysische, sind in fortwährendem Kampfe und zugleich in fortwährender Anregung zur Geburt neuer Gebilde.
Das eine braucht also das andere, so wie Yin den Yang.
Nur wer Disziplin kennt, kann sich dem Rausch und der Lust wirklich hingeben. Doch er sollte es eben auch.
Seien wir also öfter mal wieder verschwenderisch und ufern aus. Gehen nicht, wenn das Fest am schönsten ist, sondern bleiben. Essen, trinken, lieben – nicht zögerlich, sondern lustvoll. Lesen stundenlang Anna Karenina, statt dass wir uns die Zusammenfassung des Ernährungskompass auf Blinkist anhören. Lachen wir schallend, statt verschämt zu kichern. Greifen wir nach der Butter statt Margarine. Trinken Champagner statt Cola light. Essen Waffeln mit Schlagsahne und heißen Kirschen statt Reiswaffeln.
Apollon allein wird uns nicht glücklich machen. Die Buchweizen-Sellerie-Pfanne, so ist zu befürchten, auch nicht.