Freihandel

Mercosur: „Die Zahlen sind skurril“

Andreas Dür ist Professor für Internationale Politik und Leiter des Fachbereichs Politikwissenschaft an der Universität Salzburg. Im Interview spricht er über das nun gebilligte Mercosur-Abkommen, erklärt die realen Chancen und Grenzen des Handelsvertrags und ordnet die Kritik ein.
Martin Niewendick
09.09.2025
© Imago
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Mit dem Mercosur-Abkommen wollen die Europäische Union und mehrere südamerikanische Staaten eine der größten Freihandelszonen der Welt schaffen. Die EU-Kommission hat dafür vergangene Woche den Weg frei gemacht und die Vertragstexte an die EU-Staaten sowie das Europäische Parlament weitergeleitet. Geplant ist, Zölle und andere Handelsbarrieren schrittweise abzubauen.

Zur Wirtschaftsorganisation gehören Argentinien, Bolivien, Brasilien, Paraguay und Uruguay. Venezuela ist seit 2016 wegen Demokratiedefiziten und Vertragsverletzungen suspendiert, bleibt aber formal Mitglied.

The Pioneer: Die EU-Kommission hat das Freihandelsabkommen mit den Mercosur-Staaten nun den EU-Staaten und dem Parlament zur Unterschrift vorgelegt. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen spricht von einem „historischen Meilenstein“. Zu Recht?

Andreas Dür: Das ist schon ein Durchbruch, weil es wahrscheinlich ist, dass das Abkommen in der Europäischen Union ratifiziert wird. Auch die Mercosur-Staaten müssen zustimmen, allerdings kann es auch bilateral mit einzelnen Staaten in Kraft treten – auch wenn nicht alle Staaten zugestimmt haben. Wichtig ist dabei: Es geht nur um den Handelsteil des gesamten Abkommens.

Was ist mit den anderen Teilen?

Darüber steht ein Partnerschaftsabkommen, bei dem es auch um politische Kooperation geht. Und das betrifft unter anderem nationale Kompetenzen, die nicht an die EU abgegeben wurden. Hier muss also nicht nur die EU zustimmen, sondern auch die nationalen Parlamente. Und das heißt, dass dieses globale Abkommen nie in Kraft treten wird.

Wir sehen das auch beim EU-Kanada-Abkommen CETA. Auch hier ist der Handelsteil als Interimsabkommen derzeit in Kraft. Das eigentliche Abkommen wurde aber nie ratifiziert, weil es in einigen Mitgliedsstaaten nicht durch das Parlament kommt. Dasselbe wird mit EU-Mercosur passieren.

Andreas Dür: „Kritiker und Befürworter übertreiben die Folgen“. © fotohech.at

Die EU-Kommission verspricht jährlich 39 Prozent mehr Exporte und über 440.000 neue Jobs. Sind das realistische Prognosen?

Als Wissenschaftler sind solche Zahlen immer etwas skurril. Die Unterstützer übertreiben die positiven Konsequenzen, die Kritiker übertreiben die negativen Konsequenzen. Mercosur ist bevölkerungsmäßig ein großer Markt. Aber relevant sind im Grunde nur Brasilien und mit Abstrichen Argentinien. Und beide sind weit weg. Es gibt das sogenannte Gravitationsmodell von Handel: Je weiter entfernt Handelspartner voneinander sind, umso stärker nimmt der Handel ab.

Bisher gibt es wenig Handel zwischen der EU und Mercosur, und das wird sich mit dem neuen Abkommen nicht radikal ändern. Prognosen gehen von bis zu 0,1 Prozent Zuwachs des europäischen Bruttoinlandsproduktes aus. Dass sich das wirklich in über 400.000 neuen Arbeitsplätzen niederschlägt, da bin ich sehr skeptisch. Gleichzeitig kann man auch nicht erwarten, dass es zu großen negativen Konsequenzen führt.

Eine Infografik mit dem Titel: Mercosur-Abkommen: Das BIP-Wachstum

Bruttoinlandsprodukt der Partnerländer des Mercosur-Abkommens, in Billionen US-Dollar

Welche Branchen sind in der EU die größten Gewinner?

In der EU ist es ganz klar die Exporte der Automobilindustrie, Flugzeuge und ähnliches, dazu die Chemie- und Pharmaindustrie. Die werden von einer Zollsenkung profitieren. Aber es geht auch um das öffentliche Beschaffungswesen, wo man mehr Zugang bekommt, und um ausländische Direktinvestitionen.

Volkswagen produziert ja seit langem in Südamerika. Dass solche Investitionen besser geschützt werden, kann für die europäische Industrie sehr positiv sein. Interessante Konditionen gibt es auch im Bereich der verarbeiteten landwirtschaftlichen Produkte. Dazu zählen Dinge wie Parmesan oder auch Weine, die aus Europa exportiert werden und als Luxusgüter konsumiert werden. Für Mercosur sind es vor allem Rindfleisch, Hühnerfleisch und Zucker.

Laut von der Leyen zementiert das Abkommen die Position der EU als größten Handelsblock der Welt. Inwieweit ist das auch ein Signal an die USA und China?

Es ist ein wichtiges Signal. Die europäische Wirtschaft ist extrem abhängig vom Handel, darauf baut ja die ganze EU auf. Das ganze Wirtschaftsmodell ist stark auf Exporte aufgebaut. Dadurch, dass sich die USA nun aus dem Spiel nehmen und ihren Markt komplett schützen, zeigt die EU, dass Freihandel weiter wichtig ist. Auch das Abkommen mit Mexiko passt dazu: Man will zeigen, dass die EU verlässlich ist.

Ursula von der Leyen sieht in dem Abkommen einen „Meilenstein“. © Imago

Was Frau von der Leyen sagt, ist allerdings übertrieben, weil die objektive Wichtigkeit des Abkommens nicht so groß ist, wie sie tut. Brasilien ist der zehntgrößte Handelspartner der EU. Aber die Mercosur-Staaten sind nicht sonderlich reich, sie sind sehr weit weg und die Handelsströme sind beschränkt. Es ist nur ein kleiner Prozentsatz des Handels mit der Schweiz. Aber da gibt es sehr große Handelsströme, ebenso mit Großbritannien. Im Vergleich dazu ist Mercosur fast vernachlässigbar. Es ist eher ein symbolisches Zeichen als ein Ersatz für die verlorenen Exporte in die USA.

Um Kritiker zu besänftigen, setzt Brüssel auf Schutzklauseln für Agrarprodukte – denn gerade europäische Landwirte sorgen sich um eine Überschwemmung des Marktes. Wie wirksam sind die Maßnahmen?

Es sind im Grunde keine Schutzklauseln sondern Regelungen zu Kompensationszahlungen an EU-Landwirte, sollte es zu Marktverwerfungen kommen. In dem Fall gibt es ein Budget von sechs Milliarden Euro, die dann an Landwirte in den bestimmten Bereichen ausgezahlt werden. Etwa dann, wenn Preise um mehr als zehn Prozent fallen. Das halte ich momentan für unrealistisch: Die Konzessionen, welche die EU bei der Landwirtschaft gemacht hat, sind limitiert.

Es gibt eine Beschränkung der Menge an Importen, für welche die verhandelten Zollkürzungen gelten. Das ist oft so strikt, dass nicht einmal alle Importe, die jetzt schon aus Mercosur kommen, davon betroffen sind: Für Rindfleisch gilt die Zollsenkung Berechnungen zufolge nur für etwa 1,5 Prozent des EU-Verbrauchs. Natürlich wird es eine leichte Reduktion des Preises für Rindfleisch geben. Aber der Effekt ist klein im Vergleich zu größeren Verschiebungen wie der generelle Rückgang des Fleischkonsums.

Sie haben den Regenwald erwähnt. Ist die Sorge von Umweltschützern um eine beschleunigte Abholzung des Amazonas übertrieben?

Natürlich führt jede Ausweitung der Landwirtschaft in Ländern wie Brasilien dazu, dass man mehr Boden braucht. Das ist sicher ein Nachteil des Abkommens. Aber dazu wird es ohnehin kommen, ob die Güter nun nach China oder in die EU exportiert werden.

Generell kann man über solche Handelsabkommen gar nicht viel Kontrolle über andere Staaten ausüben. Die Abholzung ist stark abhängig von der Innenpolitik. Die Regierung Bolsonaro hat gesagt: Jetzt holzen wir ab. Die neue Regierung unter Lula holzt weniger ab. Das ist reine Innenpolitik. Abkommen mit anderen Staaten haben nur einen marginalen Einfluss.

Seit 1999 wird über das Abkommen verhandelt. Was sagt das über die Handlungsfähigkeit der Europäischen Union?

Es hat sehr lange gedauert, aber das kennen wir auch schon vom gescheiterten Abkommen TTIP. Auch das wurde stark politisiert und ist dann gescheitert. Das Abkommen mit Kanada ist bisher nur provisorisch in Kraft getreten, die Ratifizierung ist nie gelungen. Und Mercosur ist bisher nicht nur auf europäischer Seite gescheitert, es gab auch Probleme auf der südamerikanischen Seite.

Welche sind das?

In Argentinien waren zum Beispiel immer wieder kritische Regierungen an der Macht. Aber gerade der Schritt, den Handelsteil nun separat vorzulegen, ist wichtig. Kritiker sagen, die EU-Kommission würde damit die Demokratie aushebeln, aber tatsächlich ist es nicht so. In verschiedenen Verträgen hat die EU die Kompetenz erhalten, in diesen Bereichen zu handeln und solche Abkommen abzuschließen.

Es steht auch drin im Vertrag von Lissabon, dass das mit qualifizierter Mehrheit entschieden werden kann. Würde man alle Teile des Abkommen zusammenfügen, und nur über nationale Zustimmungen gehen, würde man dies wieder aushebeln. So kommt die EU wieder in eine Handlungsfähigkeit.

Vielen Dank für das Gespräch.

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Veröffentlicht von Gabor Steingart.

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