The Pioneer: Im März wurde ein großes Finanz- und Schuldenpaket beschlossen. Wie blicken Sie darauf?
Carl Mühlbach: Sehr positiv. Als Ökonom, aber auch als junger Mensch, freue ich mich, dass die demokratischen Parteien endlich bereit sind, Geld in die Hand zu nehmen. Die Modernisierung unseres Landes wurde viel zu lange verschleppt. Infrastruktur, Digitalisierung, Klimaschutz – all das braucht Investitionen, und zwar sofort. Der Schritt war überfällig.
Carl MühlbachNun beschäftigt sich eine Kommission mit der Schuldenbremse. Sie haben mit Kollegen Reformoptionen für die Bertelsmann Stiftung untersucht. Was ist Ihr Befund?
Wir wollten Struktur in die Debatte bringen und haben vier Prinzipien formuliert, die jede zukunftsfähige Schuldenregel erfüllen sollte. Erstens: Sie muss transparent sein – aktuell ist das Regelwerk überkomplex. Zweitens: Nachhaltigkeit sollte breiter definiert werden, also nicht nur über Defizitgrenzen. Drittens: Investitionen müssen möglich bleiben, sonst gefährden wir unser Wachstum. Und viertens: Die Regel muss in Krisenzeiten flexibel sein, damit der Staat handlungsfähig bleibt.
Es stehen viele Vorschläge im Raum – von einer „Goldenen Regel“ bis hin zu höheren Verschuldungsquoten. Was ist realistisch?
Eine Vorhersage ist kaum möglich. Es gibt nicht die eine perfekte Lösung, sondern Zielkonflikte. Jede Option hat Stärken und Schwächen. Außerdem ist die politische Lage kompliziert: Für eine Reform braucht es Mehrheiten quer durch die Parteienlandschaft. Ob ein Kompromiss gelingt, ist offen. Ich habe momentan noch erhebliche Zweifel, ob wir nach der Arbeit der Reformkommission überhaupt eine politische Lösung sehen. Da ist man noch weit auseinander. Aber notwendig ist der Kompromiss.
Und Ihr Idealmodell?
Wir sollten die Regeln vereinfachen. Heute haben wir nationale und europäische Fiskalregeln, die verschiedenen Logiken folgen – das schafft Widersprüche. Eine pragmatische Lösung wäre, dass Deutschland ein Gesetz beschließt, sich einfach an die frisch reformierten EU-Fiskalregeln zu halten, statt weiterhin zusätzliche nationale Regeln zu haben, die einer anderen Logik folgen. Damit hätten wir Klarheit, Transparenz und zugleich Anschluss an Europa.
Kritiker verweisen auf die steigenden Zinsen und die zunehmenden Schuldenkrisen weltweit. Ist es da klug, Schuldenregeln zu lockern?
Ja, wenn es um Zukunftsinvestitionen geht. Ob ein Staat seine Schulden tragen kann, hängt nicht allein an der Verschuldungsquote, sondern an der Stärke seiner Wirtschaft. Deutschland steht mit einer Schuldenstandsquote um 60 Prozent sehr solide da. Selbst wenn wir auf 80 oder 90 Prozent steigen würden – wozu es laut Prognosen kommen könnte – bliebe ein sicherer Abstand zu potentiell kritischen Schuldenstandsquoten. Entscheidend ist, dass wir durch Investitionen die wirtschaftliche Basis stärken.
Wann könnte das deutsche AAA-Rating für unsere Staatsanleihen gefährdet sein?
Nicht durch ein paar Prozentpunkte mehr Verschuldung. Die Gefahr liegt vielmehr darin, dass wir bei Energiepreisen, Infrastruktur und Innovation zurückfallen. Wenn Unternehmen und Staat zu wenig investieren, verlieren wir Wettbewerbsfähigkeit. Rating-Agenturen haben deshalb positiv auf das Finanzpaket reagiert: Sie sehen, dass Deutschland seine Zukunftsfähigkeit stärken will.
Bis zu welchem Zinssatz können wir uns das leisten? Gibt es einen Point of No Return, wo unsere Schuldenfinanzierung aus dem Ruder läuft?
Davon sind wir weit entfernt. Wichtiger ist: Wie hoch ist die Rendite von Investitionen im Vergleich zu den Zinskosten? In der frühkindlichen Bildung etwa liegen die Renditen bei 6 bis 7 Prozent. Solche Projekte zahlen sich gesellschaftlich wie fiskalisch aus. Deshalb sollte der Staat ähnlich wie ein Unternehmen handeln: Kosten und Nutzen abwägen. Wenn die erwartete Rendite über den Zinskosten liegt, sind kreditfinanzierte Investitionen sinnvoll.
Manche befürchten, dass zusätzliche Schulden nicht in Investitionen, sondern in laufenden Konsum fließen. Was entgegnen Sie?
Die Sorge ist berechtigt, deshalb wurden im Frühjahr Regeln zur Zusätzlichkeit eingeführt – also Vorgaben, dass neues Geld tatsächlich für Zukunftsausgaben eingesetzt wird. Natürlich besteht immer das Risiko gewisser „Verschiebebahnhöfe“, das lässt sich nie zu 100 Prozent vermeiden. Aber entscheidend ist, dass der Großteil der Mittel in Investitionen fließt: Infrastruktur, Klimaschutz, Digitalisierung, Sicherheit. Da bin ich Pragmatiker – lieber ein paar Unschärfen, als gar keine Investitionen.
In der Union heißt es oft, Schulden seien nicht generationengerecht. Was sagen Sie den Kritikern?
Vor Wahlen, auch vor dieser, wurde die Schuldenbremse gern zur „heiligen Kuh“ erklärt. In der Realität wissen alle, auch die Union, dass Investitionen ohne Kredite nicht auskommen. Ich erinnere daran: Auch die Union nimmt gerne Schulden auf, sobald sie in Regierungsverantwortung ist. Schulden können generationengerecht sein – wenn sie dazu dienen, eine starke und moderne Wirtschaft aufzubauen. Dann profitieren künftige Generationen, weil sie mehr Wohlstand und Handlungsspielräume haben. Gottseidank war die Union dieses mal zu einem großen Wurf bereit. Das muss man lobend festhalten.
Wünschen Sie sich, dass die Union das mit der Generationengerechtigkeit der Schulden klarer ausspricht?
Es wäre wichtig, wenn jemand offen sagt: „Ja, Schulden können generationengerecht sein.“ Denn es geht nicht darum, Lasten aufzuhäufen, sondern darum, die Grundlage für die Zukunft zu legen.
Vielen Dank
Die Studie zu den Optionen der Reform der Schuldenbremse von Carl Mühlbach und Kollegen für die Bertelsmann Stiftung können Sie hier lesen: