Die Debatte über die richtige Industriepolitik ist alles andere als neu. In Deutschland dominiert seit jeher die ordoliberale Philosophie, dass der Staat sich im Kern auf die Kreativität und Risikobereitschaft privater Investoren verlassen soll.
Spätestens seit der 2015 entworfenen „Made in China-Strategie“ des chinesischen Staates, steht dagegen aber eine – wie wir heute wissen – erfolgreiche Industriestrategie mit dem Staat als aktivem Planer im Zentrum.
Die Debatte läuft schon eine längere Zeit
Ein Beispiel: Schon 2017 plädierte ich in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS) dafür, „heute die Möglichkeiten einer aktiveren Industriepolitik für Deutschland und Europa“ zu diskutieren.
In trauter Harmonie attackierte mich damals die Mehrheit des Rates der Wirtschaftsweisen (damals bestehend aus Lars Feld, Christoph Schmidt, Isabel Schnabel und Volker Wieland) mit einem Gegenbeitrag, den die FAS dahingehend interpretierte, ich verstünde nichts von Ökonomie.
Ökonom Peter Bofinger © ImagoAcht Jahre später
Heute wissen wir, wie das Experiment Ordoliberalismus vs. aktive Industriepolitik ausgegangen ist. In Kernbereichen der deutschen Wirtschaft, allen voran der Automotive-Sektor, drohen unter einem „zweiten China Schock“ (wie etwa Ökonom Sander Tordoir titelte) die Lichter auszugehen.
Beim „ersten China-Schock“, der sich nach dem Eintritt Chinas in die Welthandelsordnung manifestierte, ging es vor allem um Textilien, Schuhe und einfache Elektronikartikel. Er erfasste Länder, wie Italien, deren Industrie eine entsprechende Ausrichtung aufgewiesen hatten. Der aktuelle zweite China-Schock mit Fokus auf die Automobilindustrie trifft Deutschland mit voller Wucht.
Ich hatte meine Einschätzung aus dem Jahr 2017 nicht aus der Luft gegriffen. Basis meiner Argumentation in der FAS für eine klare Industriepolitik war eine Analyse des Merics-Instituts (Mercator Institute for China Studies) zur chinesischen Industriestrategie „Made in China 2025“ mit einer „Heat Map“.
Sie versuchte, die davon für Industrieländer ausgehende Bedrohung unter zwei Kriterien abzubilden: dem Anteil der Wertschöpfung der Industrie am Bruttoinlandsprodukt sowie dem Anteil der Hochtechnologien an der Wertschöpfung der Industrie. Unter beiden Kriterien wies die deutsche Wirtschaft eine besonders hohe Bedrohung durch die chinesische Industriepolitik auf.
Eine Infografik mit dem Titel: Deutschland durch China besonders unter Druck
Verletzbarkeit ausgewählter Industrienationen durch die Made in China 2025 Strategie
Was geschah politisch seit 2017?
Es gab in der Zwischenzeit immer wieder Versuche, eine konsequente industriepolitische Strategie für Deutschland zu entwickeln. So präsentierte der damalige Wirtschaftsminister Peter Altmaier im Jahr Februar 2019 eine industriepolitische Strategie, die er im November 2019 noch einmal modifizierte. Von der deutschen Ökonomen-Zunft erhielt er dafür eine schroffe Abfuhr.
Die damals unveränderte Mehrheit des Rates der Wirtschaftsweisen stellte in der Tageszeitung Welt dazu fest, der Minister maße sich damit an, konkrete Technologien oder Unternehmen benennen zu können, die eine „strategische“ Bedeutung für die Volkswirtschaft haben.
Dabei verfolge Deutschland schon seit Jahrzehnten eine erfolgreiche industrie- und innovationspolitische Strategie, die ohne eine solche Machbarkeitsillusion auskomme. Sie sichere den wettbewerblichen Rahmen für unternehmerisches Handeln, stelle eine gute Infrastruktur bereit und fördere den unternehmerischen Entdeckungsprozess und damit den Strukturwandel.
Zum Download: Studie von Peter Bofinger
Der bisher letzte Versuch für eine neue Industriestrategie stammte von Ex-Wirtschaftsminister Robert Habeck. In dem Papier „Industriepolitik für Zeitenwende“ sprach er sich im Oktober 2023 dafür aus, strategisch wichtige Industrien in Europa zu halten, verloren gegangene zurückzuholen und neue Schlüsselindustrien ansiedeln. Das Papier wurde allerdings so wenig beachtet, dass sogar die übliche Kritik der „marktliebenden“ Ökonomen ausblieb.
Chance bisher nicht genutzt
Mit der im März 2025 beschlossenen Grundgesetzänderung zur Lockerung der Schuldenbremse hätte die Möglichkeit bestanden, eine konsequente industriepolitische Strategie auch finanziell umzusetzen.
Doch mit der Entscheidung, Katherina Reiche das Wirtschaftsressort zu übertragen, hat sich Bundeskanzler Friedrich Merz de facto gegen einen solchen Ansatz entschieden.
Die Rückführung der Büste Ludwig Erhards in das Ministerium und die Etablierung eines Beratergremiums aus besonders ordoliberalen Ökonomen (Veronika Grimm, Justus Haucap, Volker Wieland und Stefan Kolev) stehen sinnbildlich für eine Strategie, bei der der Staat die Ursache allen Übels ist (Bürokratie, zu hohe Steuern, zu geringe Arbeitsanreize) und alle Lösungen letztlich von den Kräften des Marktes erwartet werden.
Die Fehlleitungen des Ordoliberalismus
Das Fehlen einer industriepolitischen Strategie bringt es mit sich, dass die durch die Sondervermögen verfügbaren Mittel ohne einen klaren Bezug zu prioritären wirtschaftspolitischen Zielen eingesetzt werden.
So stehen im Bundeshalt 2026 rund 30 Milliarden Euro allein für die Senkung von Energiepreisen zur Verfügung (siehe Tabelle). Jetzt sollen noch weitere Mittel für einen Industriestrompreis eingesetzt werden.
Demgegenüber belaufen sich die Mittel für die High-Tech-Agenda der Bundesregierung auf 4,5 Milliarden Euro pro Jahr. Wie hoch beziehungsweise wie gering die Mittel für die Förderung von Künstliche Intelligenz sind, ist aus den offiziellen Quellen nicht zu entnehmen. Meine Schätzung beläuft sich auf lediglich rund 400 Millionen Euro.
Eine Infografik mit dem Titel: Fast 30 Milliarden Euro Energie-Subvention
Haushaltsbelastungen durch Maßnahmen zur Entlastung bei Energiepreisen, in Millionen Euro
Kein Politiker hat sich bisher der Mühe unterzogen, diese Prioritätensetzung für bestehende Industrie und gegen Zukunftsindustrien zu erläutern.
Und was macht China heute?
Noch mehr als bisher fokussiert es seine Industriepolitik auf technologische Innovationen. Die neue Strategie firmiert unter der Bezeichnung „new quality productive forces“. Zu Deutsch: Die Chinesen investieren jetzt in Hochtechnologie, so wie sie gerade die deutsche Industrie herstellt. Und gehen dabei sogar über unseren inkrementellen deutschen Ansatz hinaus, weil sie in disruptive und komplett neue Technologien investieren, wo die deutsche Industrie noch keine Fähigkeiten ausgebaut hat.
Sie zielen also klar darauf, Zukunftsindustrien zu fördern, und zwar unter der Leitung durch ein neues nationales System der Koordination und Allokation finanzieller Mittel.
Während Deutschland eben überwiegend die alten Industrien subventioniert.
Fazit: Das Experiment zwischen ordoliberaler Hoffnung auf Privatinvestitionen auf der einen Seite und Chinas Industriepolitik auf der anderen Seite wird also fortgesetzt, obwohl schon jetzt mehr als deutlich erkennbar ist, wohin es führen wird.