Aufstieg der AFD

AfD: Partei des Jahres 2023

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Die AfD erlebt einen signifikanten Anstieg ihrer Popularität in Deutschland. Warum eine tiefgehende Untersuchung der politischen und gesellschaftlichen Faktoren hinter diesem Phänomen notwendig ist, erläutert Gabor Steingart.

Die AfD ist die politische Siegerin des Jahres 2023: In den Umfragen erzielt die Partei inzwischen mehr als das Doppelte (23 Prozent) an Zustimmung als bei der Bundestagswahl im September 2021 (10,3 Prozent). Bei der Europawahl im Juni 2024 dürfte die AfD auch in harter Währung abräumen. Bei den Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg liegt sie in allen Umfragen deutlich vorn. Der „Economist“ beschreibt Alice Weidel in seiner aktuellen Ausgabe als „blue queen“ und „Königin im Wartestand“.

Eine Infografik mit dem Titel: Aufstieg der AfD

Forsa-Zustimmungswerte der AfD seit der Bundestagswahl 2021, in Prozent

In den deutschen Medien wird derweil gegrummelt, aber nicht kühl analysiert. Man will die AfD-Wähler nicht verstehen, sondern verdammen. Manfred Güllner – Gründer und Chef des Meinungsforschungsinstituts Forsa – vergleicht den Aufstieg der AfD mit dem der NSDAP. Er sagt:

Das erschreckendste Ergebnis des Jahres 2023 ist der nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus noch nie zu beobachtende rapide Anstieg der Anhängerschaft einer rechtsradikalen Bewegung. Gegen Ende des Jahres könnte die AfD mit 23 Prozent der abgegebenen Wählerstimmen rechnen. Von allen Wahlberechtigten würden somit 17 Prozent die AfD wählen – und damit mehr als die NSDAP bei der Reichstagswahl im September 1930.

Manfred Güllner © imago

Güllner weiter:

Zwei Jahre und vier Monate nach dieser Reichstagswahl von 1930 wurde Adolf Hitler Reichskanzler.

So weit sind wir im Deutschland des Jahres 2023 mit Sicherheit nicht. Alice Weidel, eine promovierte Ökonomin, ehemals Mitarbeiterin von Allianz SE und Goldman Sachs, ist politisch rechts, aber kein Neonazi.

Alice Weidel, Co-Vorsitzende der AfD-Bundestagsfraktion © imago

Und: Ihr weiterer Aufstieg ist nicht alternativlos. Die Republik ohne Republikaner, wie die Weimarer Republik oft genannt wurde, findet in der Bundesrepublik keinen Wiedergänger. Die Mehrzahl der Wähler lehnt die AfD ab. Keine der im Bundestag vertretenen Parteien will derzeit und auf absehbare Zeit mit ihr koalieren.

Und dennoch: Es gibt gute Gründe, den Aufstieg der AfD nicht zu verharmlosen und ihn nicht – wie die etablierten Politiker es gern tun – als moralische Schwäche ihrer Wähler zu verurteilen. Denn die Mehrzahl der neuen AfD-Sympathisanten – Güllner nennt sie Zuwanderer – sind Menschen, die gestern noch CDU, SPD, FDP und Grüne gewählt haben, also Fleisch vom Fleische der etablierten Parteien sind.

Eine Infografik mit dem Titel: AfD: Stärkste Zuwanderung von den Ampel-Parteien

36 Prozent der Zuwanderer zur AfD, im Vergleich zur Bundestagswahl 2021, kommen von den Ampel-Parteien

Der Demokratie wäre es bekömmlicher, die Triebkräfte des AfD-Aufstiegs zu verstehen. Die Brandmauer im Kopf, also der aktivistische und nicht analytische Zugang zum Thema, hat der AfD eher genutzt als geschadet. Im Wesentlichen sind es folgende fünf Treiber, die erst in ihrer Kombination eine für das bisherige Parteiensystem zersetzende Wirkung entfalten:

# 1 Deutschland steigt ökonomisch ab

Unser Land zählt zu den wohlhabendsten der Welt. Aber hinter Sätze dieser Art gehört ein „noch“. Die Zukunftserwartungen sind düster. Die demographische Flucht aus dem produktiven Kern der Volkswirtschaft, die Innovationsschwächen gegenüber China und den USA, aber auch die Verteuerung der Energiebasis führen dazu, dass es auf absehbare Zeit unmöglich ist, die Wachstumsraten der Vergangenheit zu duplizieren.

Das offizielle Potenzial der Bundesrepublik für die nächste Dekade wird vom Sachverständigenrat auf nur noch 0,4 Prozent taxiert. Das bedeutet einen spürbaren, relativen Abstieg des Landes und einen für alle spürbaren Wohlstandsverlust in Deutschland. Die Abstiegsangst der Wähler ist also real. Sie wird von den etablierten Parteien nicht ernsthaft adressiert, wobei die Union derzeit nicht an den Worten von Friedrich Merz gemessen wird, sondern an den Unterlassungen der 16 langen Merkel-Jahre.

Eine Infografik mit dem Titel: Deutschland: Ende eines Wirtschaftswunders

Preisbereinigtes Bruttoinlandsprodukt, in Prozent gegenüber dem Vorjahr

# 2 Angst vor Altersarmut

Die demographischen Probleme sind insbesondere für die sozialen Sicherungssysteme dramatisch. Der Generationenvertrag, also das Umlagesystem bei der Renten-, Pflege-, Arbeitslosen- und Krankenversicherung, beruht auf Leistungen einer Hochleistungswirtschaft mit immer neuen Facharbeitern und Angestellten. Sobald es zur Schrumpfung des inländischen Arbeitskräftepotenzials kommt, kann das System nur durch Mehrarbeit, qualifizierte Migration oder eben massiven Leistungsabbau überleben.

Rentnerpaar am Ufer eines Sees © dpa

Die Angst vor Altersarmut und medizinischer Unterversorgung im Alter ist – zumindest für alle, die keine private Vorsorge besitzen – derzeit sehr real. Die Politik diskutiert das Problem seit Jahrzehnten, aber alle Lösungsansätze – von der Aktienrente bis zur qualifizierten Zuwanderung in den Arbeitsmarkt – kommen über das Stadium der Rhetorik nicht hinaus. Das Wort findet nicht zur Tat. Nicht nur das Problem selbst beunruhigt die Wähler, sondern auch der unseriöse Umgang mit Lösungsideen. Die erkennbaren Lieferschwierigkeiten bei diesen Zukunftsthemen begünstigen die Sehnsucht nach einer Alternative, auch wenn diese Alternative schemenhaft bleibt.

Eine Infografik mit dem Titel: Das alternde Land

Alterspyramide Deutschlands mit Prognosen für 2080

# 3 Migrationspolitik ohne Volk

Die Migrationspolitik spiegelt nicht die Mehrheitsmeinung in Deutschland wider. Die illegale Zuwanderung, die legale Armutsmigration in den deutschen Sozialstaat, die babylonische Sprachverwirrung an deutschen Grundschulen und der Kampf um bezahlbaren Wohnraum stoßen auf einen sich verhärtenden Widerstand. Verhärtend deshalb, weil die Regierungspolitik, und zwar die der Regierung Merkel und der Regierung Scholz, diese Problemlagen erst ignoriert und dann verniedlicht hat.

Eine Infografik mit dem Titel: Kanzler und die illegale Migration

Zahl der registrierten illegalen Einreisen nach Deutschland, seit 2011 nach Bundeskanzlern

Bis heute werden keine kraftvollen Schritte unternommen, um eine von der Mehrheitsgesellschaft als widrig empfundene Wirklichkeit zu verändern. Der erleichterte Zugang zur Staatsbürgerschaft, die Regeln zum Familiennachzug und die Ausreichung des Bürgergelds an 2,6 Millionen Menschen, die keine deutsche Staatsbürgerschaft besitzen, wirken in dieser Situation wie ein AfD-Förderprogramm.

# 4 Finanzielle Belastung durch Klimapolitik

Ein wachsender Teil der Bevölkerung hat das Gefühl, dass die Klimapolitik sich gegen sie verschworen hat. Vom ursprünglich geplanten Sanierungszwang mit dem verbindlich vorgeschriebenen Einbau einer Wärmepumpe bis zur gewollten Verteuerung der Energie und dem Streichen des Dieselprivilegs für die Landwirtschaft – die Bürger fühlen sich über Gebühr belastet.

Atomkraftwerk Neckarwestheim am 04.09.2020 © dpa

Auch die Abschaltung aller deutschen Atomkraftwerke, die zu weiterer Stromknappheit und CO2-Belastung führt, war ein Geschenk des Kanzlers an die Grünen. Aber dieses Geschenk fand ohne die Billigung einer Mehrheit der Wählerinnen und Wähler statt. Insgesamt ist die Klimapolitik auf der Agenda der Deutschen deutlich nach hinten gerückt. Die Ampelkoalition hat diese Prioritätenverschiebung der Bürger für sich nicht akzeptiert.

# 5 Verlust der Alltagsvernunft

Man entscheidet sich nicht für die Programmatik der AfD, sondern gegen die Fortsetzung der Kontinuität, sagen die Gesellschaftsforscher Dirk Ziems und Thomas Ebenfeld. Und diese politische Kontinuität wird von vielen als feindselig gegenüber ihrem Lebensmodell empfunden. Der Mainstream der öffentlichen Debatte wendet sich seit Längerem schon den verschiedenen Formen von Minderheiten zu und vernachlässigt den Durchschnittsarbeiter mit seiner Lust auf Bier und Nackensteak und die traditionelle Partnerschaft mit ihrer Sehnsucht nach Eigenheim, Carport und Kindern.

Peer Steinbrück © imago

Peer Steinbrück, der gescheiterte Kanzlerkandidat der SPD, hat es in seinem Buch „Das Elend der Sozialdemokratie” so formuliert:

Der hohe Stellenwert, den die SPD der Beseitigung von Diskriminierung nach Geschlecht, sexueller Neigung, Herkunft, Hautfarbe, Religion und nicht zuletzt Menschen in einer prekären Lage einräumte, wird von vielen Werktätigen, die in einem normalen Arbeitsverhältnis stehen, als eine Abwendung von ihren Lebenswirklichkeiten und Existenzfragen verstanden.

Und weiter:

Die hohe politische Aufmerksamkeit, die Minderheiten zuteil wurde – zumal, wenn sie artikulationsstark vertreten werden –, erschien nicht wenigen ‚ordinary people‘ unverhältnismäßig im Vergleich zu der Beachtung, die man ihnen politisch widmet.

Hinzu komme, dass sich eine „rigide, regelrecht beklemmende Sprachregelung“ entwickelt habe, die „völlig ironiefrei ist und deren Nichtbefolgung zu einem Bannstrahl führen“ könne. Das schaffe zusätzliche Distanz.

Arbeitsloser während der Weltwirtschaftskrise, um 1930 © Deutsches Historisches Museum, Berlin

Fazit: Anders als in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts ist die Bevölkerung nicht durch einen verlorenen Weltkrieg traumatisiert. Das Gendersternchen ist kein zweiter Versailler Vertrag und Alice Weidel nicht die Stieftochter von Hitler. Wahrscheinlich bekämpfen die etablierten Parteien die AfD am besten dadurch, dass sie die Probleme lösen, die sie groß gemacht haben.