Mit dem neuen Bundesministerium für Digitales und Staatsmodernisierung (BMDS) soll die seit Jahren stockende Digitalisierung in Staat und Wirtschaft beschleunigt werden. Karsten Wildberger, der als Parteiloser angeheuert wurde und mittlerweile CDU-Mitglied ist, ist Deutschlands erster Bundesdigitalminister. Er versprach zum Amtsantritt ein „Digitales Next Germany“ und betonte, man werde „endlich in die Umsetzung kommen“ statt weiter zu zaudern. Nun, 100 Tage nach Start des Merz-Kabinetts Anfang Mai 2025, ist es Zeit für eine erste Bilanz.
Hohe Erwartungen
Die Einrichtung eines eigenständigen Digital-Ressorts zum Mai 2025 erfüllte eine zentrale Forderung von Verbänden und vielen Tech-Experten. „Endlich ein Ministerium für Digitales, endlich eins für Staatsmodernisierung“, mit diesen Worten eröffnete Wildberger seine erste Bundestagsrede. Die Vorschusslorbeeren waren groß: Bitkom-Präsident Ralf Wintergerst begrüßte das neue Ressort als „Meilenstein für Deutschland“.
Zugleich mahnte er an, dass es nur zum Treiber der Digitalisierung werden könne, wenn klare Zuständigkeiten, Koordinationsrechte und ein eigener Etat sichergestellt sind. Danach sieht es bisher noch nicht aus. Ein Digitalministerium per se ist noch lange kein Heilsbringer, zumal Digitalisierung ein Querschnittsprozess in allen Ministerien sein müsste, den ein Vertical allein nicht für alle stemmen kann – vor allem in einem föderalistischen Staat.
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Wie ist der Grad der Digitalisierung in der Verwaltung Ihrer Gemeinde? Antworten in Prozent
Die Messlatte liegt hoch, denn Deutschlands digitalpolitischer Rückstand ist eklatant: die letzte Bundesregierung brachte von 334 Digitalvorhaben weniger als 40 Prozent zum Abschluss. Entsprechend riesig sind die Erwartungen aus Wirtschaft und Gesellschaft an Wildberger, den Ex-Manager der MediaMarktSaturn-Mutter Ceconomy (die mittlerweile vor einem Verkauf an die chinesische Plattform JDcom steht). Dort hat er mit allen Schmerzen des digitalen Wandels gerungen. Seine Gestaltungsfreiheit beim Konzern war beschränkt, entsprechend ernüchternd sind die Fortschritte des Konzerns im Digitalen gewesen.
Wildbergers neuer Auftrag im Politikbetrieb gleicht einer Mammutaufgabe: Deutschlands Verwaltung ins digitale Zeitalter katapultieren, die Netzinfrastruktur modernisieren und die Wirtschaft für KI und Co. fit machen – und zwar zügig. Wildberger selbst dämpfte überzogene Hoffnungen: „Für Digitalisierung gibt es keinen Schalter, den man einfach umlegt. Digitalisierung ist ein Prozess“, warnte er im Bundestag. Doch nach Jahren des Stillstands wächst der Druck, greifbare Ergebnisse zu liefern. Schließlich wurde das BMDS von Kanzler Merz explizit geschaffen, „damit endlich alles besser wird“.
Erste Erfolge
Trotz schwieriger Startbedingungen – das neue Ministerium musste provisorisch in bestehenden Räumen unterkommen, zu Beginn fehlten selbst Tassen und Kaffeemaschinen, Mitarbeitende brachten eigenes Geschirr mit – kann Wildbergers Haus nach 100 Tagen einige Etappenerfolge vorweisen:
Turbo für den Netzausbau: Gleich in den ersten Wochen setzte Wildberger ein machtvolles Signal beim Breitbandausbau. Auf Initiative des BMDS wurde der Ausbau von Glasfaser- und Mobilfunknetzen per Gesetz zum „überragenden öffentlichen Interesse“ erklärt. Diese Änderung des Telekommunikationsgesetzes trat bereits Ende Juli in Kraft und bedeutet, dass Ausbauprojekte nun in Genehmigungsverfahren Vorrang genießen. Das Ziel ist ehrgeizig: Bis 2030 soll flächendeckend Gigabit-Netz stehen. Der schnelle Gesetzescoup zeigt: Der Digitalminister kann liefern, zumindest was rechtliche Weichenstellungen angeht.
Mobilfunk-Offensive: Parallel nahm Wildberger die Funklöcher und 5G-Lücken ins Visier. Bereits Ende Mai startete die Aktion #CheckDeinNetz, die erste bundesweite Mobilfunk-Messwoche. Bürger konnten per App Netzabdeckung messen; knapp 200 Millionen Messpunkte kamen zusammen. Ergebnis: Komplette Funklöcher (unter einem Prozent) gibt es fast nicht mehr, aber nur etwa 48 Prozent der Menschen nutzen 5G, die Mehrheit (über 50 Prozent) hängt im alten 4G-Netz fest. Diese Transparenz untermauert den Handlungsbedarf beim 5G-Ausbau. Die Kampagne war ein cleverer Schachzug: Sie band die Bürgerinnen und Bürger ein und lieferte belastbare Daten, mit denen Wildberger politischen Druck für den Netzausbau machen kann.
Verwaltungsdigitalisierung und „Once Only“: Das Bundeskabinett beschloss schon am 28. Mai die rechtliche Basis für das Once-Only-Prinzip. Kern ist das Nationale Once-Only-Tech-System (NOOTS) – eine Datenautobahn, die Ämter vernetzt, sodass Bürger und Unternehmen „Daten bei Behörden nur noch einmal angeben müssen“. Dieses Mammutprojekt der Registermodernisierung, von der Vorgängerregierung Ende 2024 vorbereitet, brachte Wildberger sofort auf den Weg. Das Gesetzgebungsverfahren zur Ratifizierung des NOOTS-Staatsvertrags wurde zum frühestmöglichen Zeitpunkt eingeleitet. Wenn das NOOTS greift, könnten sich endlich zigfach redundante Formulare erübrigen – ein Befreiungsschlag für genervte Bürger und Unternehmen. Allerdings müssen Bund und Länder das System noch mit ihren „Datentöpfen“ füttern.
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KI und digitale Wirtschaft: Am 3. Juli wurde der KI-Service-Desk bei der Bundesnetzagentur gelauncht. Dieses neue Beratungsportal richtet sich vor allem an Mittelstand und Startups und bietet praxisnahe Infos zur kommenden EU-KI-Regulierung (AI Act) – darunter einen „Compliance-Kompass“ für Unternehmen. Firmen können so prüfen, ob und welche EU-Vorgaben für ihre KI-Systeme gelten. Wildberger will die Seite als Signal verstanden wissen, „wie wir uns eine nationale KI-Aufsicht vorstellen: wirtschafts- und innovationsfreundlich, mit schlanken, schnellen Strukturen“. Dieser Ansatz darf durchaus positiv aufgenommen werden, zeigt er doch, dass die Regierung bei Zukunftstechnologien nicht nur warnen, sondern konkret unterstützen will.
Staatsmodernisierung und Bürokratieabbau: Vielleicht am schwierigsten ist Wildbergers Mission, den Beamtenapparat zu entrümpeln. Ende Juli richtete die Regierung den neuen Staatssekretärsausschuss „Staatsmodernisierung und Bürokratierückbau“ ein, angesiedelt beim BMDS. Geleitet vom parlamentarischen Staatssekretär Philipp Amthor (CDU), versammelt dieser Ausschuss ranghohe Vertreter aller Ministerien und des Kanzleramts, um gemeinsam die überfällige Verwaltungsreform anzuschieben. Amthor fand klare Worte: Bürger und Wirtschaft erwarteten zu Recht, „dass wir Deutschland wieder leistungsfähig machen, indem wir Ballast abwerfen“ – jetzt zählten „Taten und messbare Erfolge“. Überflüssige Bundesbehörden sollen zusammengelegt werden, Berichtspflichten der Wirtschaft reduziert, für jedes neue Gesetz ein Praxis- und Digitaltauglichkeits-Check durchgeführt werden. In den ersten 100 Tagen blieb es hier noch bei Vorbereitungen auf Arbeitsebene, doch immerhin: die Koordination steht.
Karsten Wildberger und Philipp Amthor, Berlin, April 2025 © ImagoTeamaufbau und Start-up-Mentalität: Wildberger hat in Rekordzeit ein neues Ministerium aus dem Boden gestampft, was erstmals seit 1986 der Fall war. Hunderte Beamte wurden aus diversen Ressorts zusammengezogen, Wildberger rühmte eine „Start-up-Mentalität“ in seinem Haus. Tatsächlich stand schon im Juni ein erster Organigramm-Entwurf fürs BMDS, im August folgte das finale Organigramm. Die darin verbriefte personelle Aufstellung signalisiert: Hier soll – so das im Politikbetrieb eben möglich ist – Tempo gemacht werden, ohne lange Einarbeitung. Und Wildberger selbst? Der Quereinsteiger aus der Wirtschaft hat sich schnell in der Berliner Politik akklimatisiert. Seine Antrittsrede blieb zwar eher vage und risikoscheu, doch in Interviews zeigt er Klartext.
Was noch fehlt
Die digitale Wirtschaft – von Startups über Mittelstand bis Großkonzerne – schaut genau hin, ob die Politik ihre Versprechen einlöst. Nach 100 Tagen bleiben diese Wünsche noch offen:
Spürbarer Bürokratieabbau: Die Wirtschaft erwartet hier rasch konkrete Entlastungen – weniger Berichts- und Doku-Pflichten, schnellere Genehmigungen, One-Stop-Shops für Amtswege. Wildberger selbst schätzt, im aktuellen Tempo bräuchte man noch fünf Jahre für 100 Prozent.
Klare Abgrenzung der Kompetenzen des Digitalressorts: Für Unruhe sorgt ein Kompetenzgerangel innerhalb der Regierung. Neben Wildberger gibt es nämlich noch Dorothee Bär (CSU), Chefin des neuen Bundesministeriums für Forschung, Technologie und Raumfahrt, sowie Wirtschaftsministerin Katherina Reiche (CDU). Ihre Zuständigkeiten überschneiden sich in Teilen mit Wildbergers Portfolio (Stichwort KI-Förderung, Innovationspolitik). Das Digitalministerium ist als Querschnittsfunktion organisiert, hat aber nur begrenzte Durchsetzungsmacht. Per se darf das BMDS nicht als Feigenblatt für andere Ministerien gelten; es bleibt der Bedarf an Digitalisierung über Ressortgrenzen hinweg.
Dorothee Bär und Katherina Reiche im Bundestag, 8.7.25 © ImagoPraxisnahe Umsetzung und Kommunikation: Der „Digital Check“ für neue Gesetze muss mehr sein als ein Formular im Gesetzgebungsprozess; er muss spürbar verhindern, dass absurde Vorgaben (wie etwa ein E-Mail-Verbot in Amtsstuben, das es tatsächlich gab) überhaupt noch entstehen. Zudem sollte Wildberger Erfolge sichtbarer machen, um die Stimmung insgesamt zu drehen. Er kommuniziert bereits zeitgemäß und offen, holt die Bürger und andere Stakeholder ins Boot. Das Digitalministerium sollte noch stärker die Öffentlichkeit mobilisieren, um Druck auf Behörden aufzubauen. Auch wünscht man sich Fortschritte bei staatlichen Innovationsprojekten – etwa dass Verwaltung selbst KI pilotiert (wie Chatbots für Anfragen) oder Reallabore für neue Tech-Anwendungen schafft, in denen Unternehmen und Ämter gemeinsam experimentieren können.
Digitalminister Wildberger: Kein Karrierepolitiker
Die Strategie dafür stimmt: Wildberger konzentrierte sich auf große Hebel (Netze, Daten, KI, Verwaltung) und holte früh Entscheidungskompetenz an sich. Er hat gezeigt, dass er den Koalitionspartner SPD und die Länder(-digitalminister) einbinden kann – sonst wären Gesetzesbeschlüsse in Rekordzeit kaum möglich gewesen. Als Quereinsteiger wirkt Wildberger erfreulich unideologisch und ergebnisorientiert. Sein Start-up-Spirit unterscheidet ihn wohltuend von Bürokraten, die früher die digitale Agenda geprägt haben. Dennoch muss man realistisch bleiben: Bisher sind viele Etappensiege vor allem politisch-administrativer Natur – Gesetze, Gremien, Konzepte. Die Koalition steht unter Erfolgsdruck und hat – anders als die Ampel zuvor – keine Ausreden mehr, es gäbe Dissens zwischen Partnern. Schwarz-Rot wollte dieses Digitalministerium, nun muss es auch liefern.
Der Digitalminister selbst wird an knallharten KPI gemessen werden: Steigt der Glasfaserausbau-Kurve erkennbar an? Geht die Zahl analoger Behördengänge runter, sind E-Health-Angebote einfach nutzbar? Wird Deutschlands Abschneiden bei internationalen Digital-Rankings besser? Hier darf Wildberger keine Beschönigungen liefern, sondern sollte die Fortschritte – oder deren Ausbleiben – transparent machen. Seine Performance wird letztlich daran gemessen, ob Deutschland zwischen 2025 und 2029 endlich aus dem digitalen Mittelfeld nach vorne kommt.