Michel Friedman im Interview

„Die schlechteste Demokratie ist mir lieber als die beste Diktatur“

Im Oktober 2026 sollte Michel Friedman bei einer Literaturveranstaltung in Mecklenburg-Vorpommern auftreten – und wurde drei Wochen nach der Einladung wieder ausgeladen. Die Gründe dafür sind fadenscheinig und zeigen, wie die AfD Kulturveranstaltungen unterminiert.
Alev Doğan
26.09.2025
© Imago
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The Pioneer: Herr Friedman, auf einer Skala von eins bis zehn – wie verzweifelt ist der verzweifelte Demokrat in Ihnen gerade?

Michel Friedman: 4,9. Wenn ich bei fünf wäre, wird es eng.

Es gab in den vergangenen Tagen erstaunliche Schlagzeilen um eine Ausladung, die Sie getroffen hat. Können Sie chronologisch darstellen, was bis zum Moment dieser Ausladung passiert ist? Eine Veranstaltung, die erst in einem Jahr hätte stattfinden sollen.

Erst mal gab es eine Einladung, und die war ganz großartig. Es gibt ein Literaturhaus in Mecklenburg-Vorpommern, in einem doch relativ rechtsextremen Umfeld – und der neue Leiter dieses Literaturhauses hat sich zum 120. Geburtstag von Hannah Arendt im Oktober 2026 vorgenommen, dazu eine Veranstaltung zu organisieren. Dort sollte ich reden und aus meinem Buch Mensch! Liebeserklärung eines verzweifelten Demokraten lesen. Ich bekomme solche Einladungen relativ oft. Allerdings hat dieser Ort nicht einmal 4.000 Bürger, und bei sowas denke ich mir: Wow, was für ein mutiger Mensch, der in einem solchen Umfeld ein Zeichen setzt mit Hannah Arendt, Demokratie, Freiheit.

Ein Zeichen gegen Rechtsextremisten?

Ja, Hannah Arendt hat ja die Auschwitzprozesse besucht und beschrieben. Ich habe mir gesagt: Da fährst du hin, du stärkst diesen Mann und die Leute, die dort für Demokratie arbeiten und die sich wehren – was immer schwerer wird, weil in diesem Ort 40 Prozent bei der Bundestagswahl AfD gewählt haben. Ich habe also zugesagt und drei Wochen später vom selben Mann eine Absage bekommen. Er bedauere sehr, absagen zu müssen, aber der Bürgermeister hätte ihm angewiesen, dass er erstens nicht für meine Sicherheit garantieren würde, weil Rechtsextreme die Veranstaltung stören könnten. Und zweitens, so richtig passe man auch nicht zum Ort. Und deswegen muss man mir mitteilen, dass ich ausgeladen bin, also eine unerwünschte Person in Klütz.

Man weiß nicht genau, welches dieser beiden Argumente, von denen wir nicht wissen, welches nun schwerer wog, das schlimmere ist.

Letztendlich ist die Absage an sich das Problem, denn die Argumente sind Pseudo-Argumente. Woher weiß ein Bürgermeister, dass in einem Jahr Rechtsextreme eine Veranstaltung stören? Entweder, weil Rechtsextreme bereits jetzt so mächtig in seinem Ort sind oder weil er sich sowas gut vorstellen kann. Die Frage, ob man zu einem Ort passt oder nicht, wurde dann gekoppelt daran, ich würde ja mit einem Fahrer kommen und vorher in einem Hotel in Hamburg wohnen. Das wurde dann immer mehr erzählt – und ist das Narrativ des reichen, gierigen Juden. Ich muss es wiederholen – die Veranstaltung ist in über einem Jahr. Die Absage an sich ist der Skandal, auch aus kulturpolitischen Gründen, weil Politik sich eigentlich nie einmischen sollte. Auch dem Argument der hohen Kosten wurde öffentlich vom Förderverein widersprochen.

Die Kosten haben mit dem Bürgermeister und seinem Haushalt also nichts zu tun.

Die Stadt zahlt keinen einzigen Cent. Man muss diese Einmischung ernst nehmen, denn sie ist nur öffentlich geworden, weil dieser sehr mutige Mann aus dem Literaturhaus trotz gegenteiliger Anweisung die Öffentlichkeit eingeschaltet hat. Und wir wissen, dass die AfD in vielen Bereichen – in Gemeinden, aber auch im Land und im Bund – Kulturinstitutionen beeinflusst, einschüchtert und mit Anfragen bombardiert, sodass sie ihre Arbeit kaum mehr machen können. Ob in Ungarn oder jetzt in Amerika – totalitäre, autoritäre Rechtsextreme versuchen, Meinungs-, Kunst- und Pressefreiheit einzuschüchtern und auszuschalten.

Die Ausladung hat auch auf bundespolitischer Ebene Schlagzeilen gemacht.

Am Montag, den 29. September wird die Schriftstellervereinigung PEN Berlin um 17 Uhr eine Kundgebung in Klütz veranstalten, bei der verschiedene Leute auftreten werden. Ich fahre hin, weil ich diese Stadt eigentlich kennenlernen möchte – und mir wird niemand in diesem Land verbieten, ob ich erwünscht oder unerwünscht bin. Hallo Klütz, ich bin da und freue mich drauf.

Was macht das mit einem? Ist es der Anfang von etwas Größerem?

Nein, nicht der Anfang, wir sind mittendrin. Die heutigen Zahlen zeigen, dass die AfD enorme Zuwächse bekommt. Wir sehen, dass sich die Strukturen der AfD nicht nur in den Parlamenten immer mehr ausweiten. „Der Marsch durch die Institutionen“ war früher mal eine linksradikale Aussage. Die Rechtsradikalen schaffen das aber gerade. Und die Beeinflussung, vor allem die Einschüchterung in kleinen Ortschaften in Ostdeutschland, ist mittlerweile sehr fortgeschritten.

Wie fortgeschritten?

Die Leute kleiner Ortschaften haben Angst, wenn sie einfach nur demokratisch sein wollen – weil sie besucht werden, weil es ein paar Schlägertypen gibt, weil wieder jeder auf jeden schaut. Institutionen, gerade in der Kultur, sind die sensibelsten Orte. Wir hätten nie erfahren, was passiert wäre, wenn dieser mutige Leiter des Literaturhauses nicht die Öffentlichkeit bemüht hätte. Und ich bin überzeugt, dass sehr viele Dinge so unter den Teppich gekehrt werden – und dass sich die Angst mehr und mehr ausbreitet. Wir sind immer noch nicht bereit zu verstehen, dass das eine Partei ist, die die Demokratie vernichten will. Dazu gehört auch deren Rassismus. Die Würde des Menschen ist bei ihnen antastbar. Hier ist an einem ganz kleinen Punkt, an einem ganz kleinen Ort versucht worden, die Demokratie, Meinungs- und Kunst und Pressefreiheit zu zerstören. Das ist nun ein bisschen blöd gelaufen. Ich freue mich jetzt, in Klütz bestimmt tolle Gespräche zu haben und diese Gegend kennenzulernen.

Es ist wahrscheinlich unmöglich eine Gesellschaft aufzubauen, in der es keinen Rassismus, keinen Antisemitismus gibt. Was nun immer häufiger beobachtet werden kann, ist, dass Menschen der demokratischen Mehrheit nicht nur wegsehen, sondern sagen, dass Alice Weidel oder Björn Höcke doch auch mal regieren sollten. Denn von SPD, CDU und den Grünen – der Dämon – sei man so enttäuscht.

Erstens mag ich die Grünen und alle, die dämonisiert werden, haben meine Solidarität. Überall dort, wo man Demokratiefeinde in demokratische Macht hineingenommen hat, haben sie noch intensiver und noch schneller die Demokratie abgesägt. Viele Demokraten sind müde, dekadent, gleichgültig, verschlafen und merken nicht, dass es um die Substanz geht. Die AfD oder Donald Trump wollen ja nicht die Oberfläche von Politik-Entwürfen verändern – sie wollen eine andere Republik. Sie wollen den Verfassungsstaat verändern und den Rechtsstaat abschaffen. Sie wollen wieder bestimmen, ob ein Mensch ein Mensch ist. Und sie wollen letztendlich die Europäische Union zerstören, was auch ein Wunsch von Donald Trump ist. Nationalismus gegen Universalismus. Du bist entweder, wie wir es wollen – oder du gehörst nicht dazu. Die Konsequenz wäre Remigration. Alles ist auf dem Tisch, wir wissen über alles Bescheid. Wir stellen aber fest, dass die Furcht, dass so eine Veränderung im Grundsätzlichen stattfindet, nicht angekommen ist.

Weil man denkt, dass man nicht gemeint sei?

Ja, und weil es einem immer noch sehr gut geht und man sich sowas gar nicht vorstellen kann. Die Menschen können ja nichts dafür, dass sie jahrzehntelang in Frieden und Freiheit gelebt haben. Tatsache ist, dass bereits wenige Demokratiegegner reichen, den Rest zu überrennen, wenn Demokraten ihre Lebensform nicht mit derselben Leidenschaft verteidigen, wie sie angegriffen werden. Das ist eine, nicht nur in Deutschland, historische, in der Nazizeit entstandene Weisheit. Was ist die Alternative zur Freiheit? Unfreiheit. Was ist die Alternative zu Frieden? Krieg. Was ist die Alternative zu Gerechtigkeit? Will ich selbstbestimmt sein oder von irgendeinem Typen aus irgendeinem Ministerium vorschreiben lassen, wie ich leben soll? Die schlechteste Demokratie ist mir lieber als die beste Diktatur. Allen Nörglern, die uns jetzt zuhören, gebe ich einen guten Rat: Wählt demokratisch. Denn wenn ihr demokratisch wählt, werdet ihr morgen aufstehen und weiter nörgeln. Wenn ihr aber die AfD wählt, kann es euch passieren, dass ihr wie in Moskau aufsteht und euch entweder im Gefängnis oder auf einem Friedhof wiederfinder.

Wenn man über die AfD berichtet und dabei deutlich macht, dass das eine rechtsextremistische, demokratiefeindliche Partei ist, malen wir das Bild eines mystischen und dadurch auch attraktiven Bösewichts. Über die Partei nicht zu sprechen oder ihre rassistische Dimension zu unterschlagen, verharmlost aber das Ausmaß des Problems.

Das ist ein Dilemma. Wir haben zu berichten. Und ganz bestimmte Entwicklungen müssen wir der Öffentlichkeit mitteilen. Indem man über die AfD berichtet, Recherchen unternimmt, kommen ja nicht nur gute Sachen raus, sondern – wie bei anderen Parteien – auch welche, die für Ärger sorgen. Aber für die Verhandlung über Freiheit haben wir nicht mehr viel Zeit. Was Demokratie angeht, haben wir vielleicht einen Zeitkorridor von maximal fünf bis zehn Jahre. Wenn 2027 Frankreich an die Rechtsextremisten fällt, dann ist auch die Europäische Union, wie wir sie kennen, nicht mehr dieselbe. Die AfD wird von Donald Trump unterstützt, einem Mann, der als Präsident des größten demokratischen Landes bei der Trauerfeier Charlie Kirks – nachdem dessen Ehefrau sagte, „ich verzeihe“ – ans Podium geht und ruft: Wer nicht auf meiner Seite ist, den hasse ich, der muss weg: Was ist das für eine barbarische Message für junge Menschen? Es ist Auge um Auge, Zahn um Zahn.

Was also kann man tun?

Man muss sagen, dass das Angebot der anderen Parteien schon mal attraktiver war – inhaltlich wie personell. Aber am Ende ist eine Wahl immer das kleinste gemeinsame Übel. Und ich werde immer eher eine der angesprochenen Parteien wählen, weil sie auf dem Boden dieser Verfassung steht, als die AfD, die nicht am Rande, sondern außerhalb der Demokratie ist. Es ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich nicht darauf wetten könnte, ob in wenigen Jahren Deutschland oder andere Länder der EU demokratisch sein werden, auch Amerika. Das ist ein ganz furchtbares Momentum. Es führt dazu, dass ich viel mehr als sonst wie ein Handelsvertreter jedem das Grundgesetz anbiete und sage, guck mal rein, es sind deine Freiheitsrechte.

Wie gehen Sie mit Menschen um, die Ihnen sagen, dass sie dieses Mal die AfD wählen wollen oder es bereits getan haben?

Es ist ihr freies Recht. Was ich denen dann aber sage, ist: Wenn die AfD regiert, wirst du andere Parteien wahrscheinlich nicht mehr wählen können, weil es freie Wahlen so nicht mehr geben wird. Du bist kein Protestwähler. Ich nehme dich ernst. Bist du bereit für Rassismus? Bist du bereit für Judenhass? Bist du bereit für den Abbau von Rechtsstaatlichkeit? Und du bist auch der Meinung, dass irgendwelche Leute in Ministerien bestimmen, was in Theatern gezeigt wird oder in Büchereien ausliegt? Du hast kein Problem, dass Schwule jetzt nicht mehr geschützt sind? Du bist bereit, die Menschenrechte zu zerstückeln? Wir müssen streiten.

Wie erschöpft sind Sie im Moment?

Ich bin sehr erschöpft. Ich bin auch traurig. Aber das letzte Wort ist noch nicht gesprochen.

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