Der 8. Tag – der Newsletter

Geschichte wiederholt sich? Außerdem: Selfie-Verbote und Wes Anderson

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© The Pioneer

Guten Abend,

es ist wieder Montag und der Juli dachte sich, dass er lieber ein April wäre und beschert uns folgerichtig mit allen Wetterlagen, die man so kennt. Nur geschneit hat es noch nicht, aber wer weiß, was uns noch droht.

Wir möchten diese Woche:

  • über ein virales Kiss-Cam-Video nachdenken, das nur Verlierer kennt;

  • Ihnen einen Kinofilm empfehlen (wenn der Regen zu stark wird, ist das Kino die unverhoffte Rettung)

  • und den Kopf schütteln über uns Menschen, die mehr und mehr Verbote zu brauchen scheinen.

Doch zunächst sprechen wir über einen Vergleich, der eher hinkt als klärt.

Los geht's.

Bei der Vereidigung Hindenburgs © Imago

Es gibt da einen Vergleich, der durch die Talkshows, durch die Kommentare und Leitartikel dieses Landes geistert und sehr häufig gezogen wird: das Zitieren sogenannter Weimarer Verhältnisse.

Immer dann, wenn es um die hohen Umfragewerte für die AfD geht, wenn das Gebaren der Abgeordneten im Bundestag thematisiert wird, wenn gefundene Kompromisse wieder scheitern, folgt der Blick in die Vergangenheit wie das Amen in der Kirche: Geschichte wiederholt sich (nicht)?

Im Achten Tag spreche ich mit dem Historiker Oliver Hilmes über die Angemessenheit solcher Vergleiche im Allgemeinen, aber auch dieses ganz bestimmten Vergleichs im Besonderen.

Was trennt die Bundesrepublik von der Weimarer Republik – strukturell, politisch, kulturell? Wo gibt es vielleicht doch Parallelen?

Hilmes weiß um die Versuchung, Geschichte in die Gegenwart zu ziehen. Als Historiker kennt er die Details, die Nuancen, die Brüche und die Gefahren vorschneller Vergleiche. Gleichzeitig versteht er das Bedürfnis, in unruhigen Zeiten Halt in der Vergangenheit zu suchen.

In einem ist er sehr klar: Empörung sei noch keine politische Handlung.

Etwa als Anfang des Jahres die Unionsfraktion im Bundestag gemeinsam mit der AfD für eine „Wende der Migrationspolitik“ abgestimmt hatte – und der damalige SPD-Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich dieses Vorgehen mit besonderer Entrüstung kritisierte.

Wenn Rolf Mützenich davon spricht, dass das ,Tor zur Hölle‘ geöffnet worden sei, dann sagt der Berliner: ,Haste dit ooch ‘ne Nummer kleener?‘

Oliver Hilmes

Historiker Oliver Hilmes. © dpa

Das ist einfach unverhältnismäßig, weil das Tor zur Hölle, das haben Menschen vor vielen Jahrzehnten durchschreiten müssen – und die haben ganz andere Sachen erlebt.

Diese Art von Empörung und Entrüstung sei emotional nachvollziehbar, doch sie führe nicht weiter und sei politisch nicht klug, so Hilmes.

In diesem ersten von zwei Achter Tag-Sonderfolgen schauen wir auf das Ende der Weimarer Republik, darauf, was sie mit uns heute zu tun hat – und was nicht.

Lesen oder Hören Sie das Gespräch.

Weimarer Verhältnisse? – mit Oliver Hilmes

Was uns Geschichte lehrt: Parallelen, Brüche und die Versuchung schneller Analogien.

Podcast hören

Veröffentlicht in Der 8. Tag.

Podcast

Der 8. Tag

Ein Riss in der Wirklichkeit: Anton Domenico Gabbianis „Ferdinando de' Medici, Großprinz von Toskana" von Selfie-Tourist beschädigt. © via X/Maze_32

Es gibt, liebe Freunde, unterschiedliche Kriterien anhand derer wir den Zustand unserer Gesellschaft messen können. Viele unterschiedliche Indizes. Bildungsstand, Einkommen, Bruttoinlandsprodukt. Sie kennen sie.

Ein häufig unterschätzter Indikator ist die Anzahl und die Notwendigkeit von Verboten. Vor allem dann, wenn sich Verbote um das gesellschaftliche Leben drehen, um die Art und Weise, wie wir zusammen leben, ist das häufig ein dezenter Fingerzeig, dass wir ein wenig das Gefühl füreinander verlieren.

Neustes Beispiel: Fotografier- und Selfie-Verbote in Museen. Wir kennen es alle: Wir reisen nach Florenz und wollen natürlich in die Uffizien und noch wichtiger, als dass wir da sind, ist, dass alle wissen, dass wir da gewesen sind.

Also machen wir Fotos. Die sind meistens nicht gut. Verwackelt, schlecht ausgeleuchtet, einfach sehr verzichtbar. Und während wir also uns selbst shooten, verpassen wir es nicht nur, im Moment zu sein, sondern zerstören ihn auch – unseren und den anderer.

So wie jetzt wieder in den Uffizien. Lesen Sie, was passiert ist - und was es über uns sagt.

Wes Anderson: Der phönizische Meisterstreich © picture alliance

Manchmal braucht man gar nicht viel zu sagen, um Ihnen eine Idee davon zu geben, was Sie erwarten dürfen. Es reichen zwei Wörter, nur ein Name: Wes Anderson.

Sein neuer Kinofilm „Der phönizische Meisterstreich“ erzählt die Geschichte eines Familienvaters und seines Erbes, erzählt von Spionage und der komisch-angespannten Beziehung zu seiner Tochter.

Ein klassischer Anderson – charmant, symmetrisch, witzig und ein kleines bisschen absurd.

Was will man mehr an einem regnerischen Sommerabend?

Ertappt? Pablo Picasso: Der Kuss, 1969.  © Screenshot via Musee Picasso Paris

... der Familie hinter dem Video.

Seit ein paar Tagen geht ein Video viral, das Sie sicherlich auch schon gesehen haben: Bei einem Coldplay-Konzert schwenkt die sogenannte Kiss-Cam durch das Publikum und fokussiert auf ein Paar in romantischer Umarmung. Als das Paar sich selbst auf dem Monitor entdeckt, drehen sich der Mann und die Frau weg, versuchen der Kameralinse zu entkommen. Die Reaktion ist so ungewöhnlich wie eindeutig: Sie wollten nicht gesehen, nicht gezeigt werden.

Doch weil heutzutage jeder jederzeit seine Handykamera gezückt hat (siehe Stilfrage) landet die Szene im Netz, die beiden werden identifiziert: Er ist CEO des US-Techunternehmens Astronomer, sie ist die Personalchefin genau dieses Unternehmens. Er ist verheiratet – allerdings mit einer anderen Frau, mit der er auch Kinder hat.

Wir sehen also eine Paarung, die aus mehreren Gründen nicht gesehen werden sollte: außereheliche Affäre, Betrug, Liaison am Arbeitsplatz – Sie wissen schon.

Diese Dinge passieren, Menschen sind menschlich. Sie gehen fremd, sie verlieben sich in Arbeitskollegen, niemand ist perfekt. Nun ist die Imperfektion dieser beiden Menschen in einen Skandal gemündet, der eigentlich nur Verlierer kennt:

  • die betrogene Ehefrau

  • die Kinder des Ehepaares

  • die Personalchefin

  • der CEO

Der hat – nachdem das Unternehmen ihn bereits beurlaubt hatte – nun seinen Rücktritt angeboten. Der Verwaltungsrat habe zugestimmt. Die Personalchefin ist weiterhin beurlaubt.

Dass solche privaten Momente durch Social Media zum Gegenstand öffentlicher Verurteilungen werden, ist höchst unerfreulich und erinnert in unangenehmer Weise an Zeiten, in denen der sogenannte Ehebruch nicht nur moralische Konsequenzen hatte, sondern auch strafrechtliche. Seit 1969 ist Ehebruch in der Bundesrepublik nicht mehr strafbar, in Österreich seit 1977 nicht mehr und in der – in einigen Fragen chronisch späten – Schweiz seit 1989.

Dass Menschen aufgrund unmoralischen Verhaltens am Nasenring durch die Manege gezogen werden, ist eine Tendenz, die uns beunruhigen darf.

Insbesondere, weil eben nie nur die Beteiligten die Konsequenzen spüren, sondern auch unbeteiligte Dritte.

Den Kindern und ihrer Mutter widmen wir in dieser Woche unsere Zukunfts-Rubrik. Mögen Sie zurückfinden zu Ruhe, Frieden und Privatsphäre – und die Kinder auch zu ihrem Vater.

Allen Moralaposteln sei derweil die Bibel-Lektüre empfohlen. In Johannes 8,2–11 wird Jesus angesichts einer beim Ehebruch ertappten Frau gefragt, ob sie gesteinigt werden soll. Jesus antwortete: „Wer unter euch ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein auf sie.“ Daraufhin verlassen die Kläger, natürlich, den Platz.

Anatomie eines Falls

Wie die Debatte um eine Staatsrechtsprofessorin eine Koalitionskrise auslöst.

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Veröffentlicht von Karina MößbauerJan SchroederChristian Schlesiger.

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Manchmal lohnt es sich, kurz Luft zu holen, einen Schritt zurückzutreten und zu schauen: Was ist eigentlich passiert?

Die Causa Frauke Brosius-Gersdorf hat die Republik aufgerüttelt – die Staatsrechtsprofessorin aus Potsdam sollte zur Bundesverfassungsrichterin gewählt werden und – Sie wissen es – wurde es nicht.

Meinungen dazu gibt es viele. Wir wollen uns an der Debatten-Kakophonie heute nicht beteiligen, nicht meinen und kommentieren, sondern die Fakten darlegen.

Was ist wann wie passiert?

Was hat den Stein der Kritik an Brosius-Gersdorf ins Rollen gebracht? Wann hat sich der Wind in der Unionsfraktion gedreht? Und welche Rolle kam Fraktionschef Jens Spahn dabei zu?

Denn das Vertrauensverhältnis zwischen den Abgeordneten der Union und der SPD ist gerissen, Berlin hat vor Beginn der parlamentarischen Sommerpause seine erste handfeste Koalitionskrise.

Wie konnte es so weit kommen?

Meine Kollegen Karina Mößbauer, Christian Schlesiger und Jan Schroeder haben mit Parlamentariern und Akteuren der Bundesregierung gesprochen, sie zeichnen minutiös nach, wie eine Empörungswelle über den Bundestag brach und große Teile parlamentarischer Verhandlungsdemokratie überschwemmte.

Hier geht es zu der Anatomie eines Falls, der viele Beteiligte fassungslos macht – und immer noch nicht gelöst ist.

Ich wünsche Ihnen eine schöne Woche .

Auf sehr, sehr bald.

Pioneer Editor, Stv. Chefredakteurin The Pioneer
  1. , Pioneer Editor, Stv. Chefredakteurin The Pioneer

Redaktionelle Mitarbeit: Lorenz Lanig, Pia v. Wersebe, Friederike Jost.

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