Unbehagen bringen gerade europäische Anleger ihrem Heimatkontinent entgegen. Die Börsianer lesen, dass sich Europa mit Sondervermögen und Investitionstöpfen in die Zukunft aufmacht und sehen wie die Aktienkurse steigen (Stoxx Europe 600 seit Jahresbeginn plus sieben Prozent). Gleichzeitig spüren sie, wie viel auf dem alten Kontinent im Argen liegt.
Sorgenkind Frankreich: Die Rendite französischer Staatsanleihen mit fünfjähriger Restlaufzeit liegt bei 2,71 Prozent und übersteigt damit inzwischen ihre italienischen Pendants (2,68 Prozent).
Eine Infografik mit dem Titel: Frankreich überholt Italien
Entwicklung der Anleiherenditen französischer und italienischer Staatsanleihen mit 5-jähriger Laufzeit, Werte in Prozent
Zollhammer: Das Gewinnwachstum der Aktien im Stoxx Europe 600 wäre ohne US-Zölle in diesem Jahr vier Prozent höher, so Prognosen der Deutschen Bank. Stattdessen liegt die Prognose bei nur drei Prozent.
Regulierungswut: Die direkten Bürokratiekosten für die deutsche Wirtschaft liegen bei 65 Milliarden Euro, so das ifo Institut.
Teure Demografie: Bundesfinanzminister Lars Klingbeil (SPD) mahnt Sparmaßnahmen an. Gleichzeitig beschließen Union und SPD ein milliardenschweres Rentenpaket.
Wo also steht Europa heute als Investmentstandort für Privatanleger? Darüber sprach The Pioneer mit Christian W. Röhl, Investor und Chefökonom von Scalable Capital. Die fünf wichtigsten Aussagen:
#1 Neue ETF-Präferenzen: Scalable-Kunden stellen sich breiter auf. Statt MSCI World (Aktien Industrieländer) heißt es immer öfter MSCI All Country World (Aktien Industrie- und Schwellenländer). Reine Europa-ETFs werden nicht übermäßig stark angelaufen. Spezial-ETFs (Rüstung, Optionsstrategien) gewinnen an Bedeutung.
#2 Starke Euro-Industrie: Europas industrielle Basis wird viel zu selten gewürdigt, sagt Röhl. In den Bereichen Elektrifizierung und Energiemanagement gibt es mit Siemens, Schneider Electric und ABB europäische Top-Unternehmen.
Eine Infografik mit dem Titel: Siemens: Börsenstärke aus Europa
Entwicklung der Siemens-Aktie seit August 2020, Werte in Euro
#3 Keine Angst vor der Eurostärke: Ein starker Euro drückt den Euro-Gegenwert von US-Aktien. In einem international diversifizierten Portfolio gleicht sich der Effekt aber aus. Für Nicht-Euro-Unternehmen, die in Europa tätig sind, führt es zu höheren Gewinnen, mehr Free Cashflow, mehr Dividenden und Aktienrückkäufen.
#4 Eine echte Kapitalmarktunion: 27 europäische Börsenplätze sind mit Blick auf Wettbewerb kein Nachteil. Was fehlt, sind aber harmonisierte Regularien und eine bessere Investorenkultur.
#5 Europa fehlt ein Narrativ: Das ikonische Bild von Helmut Kohl und François Mitterrand in Verdun war für Europa prägend. Es ging um Versöhnung, Aufbruch und Union. Eine solche Erzählung, die auch psychologisch für die Wirtschaft bedeutsam wäre, fehlt heute.
Unsere Einschätzung: Bei allen Gesprächen mit Anlageexperten und Ökonomen steht für uns letztlich als Essenz, dass sich Europa am Scheideweg befindet. Gerade große, international agierende und dividendenstarke Aktien sind für ein Portfolio bereichernd. Je mehr die Unternehmen makroökonomisch von Europa abhängig sind, desto schwieriger fällt die Auswahl.
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