Interview

„Ein eiserner Vorhang ist niedergegangen“

Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg entstand zwischen Potsdamer Konferenz und dem Atomangriff auf Hiroshima eine neue Weltordnung. Was ist davon noch übrig und welche Schlüsse lassen sich für die Gegenwart ziehen? Oliver Hilmes über eine Zeit, die weniger Parallelen zulässt als vermutet.
Alev Doğan
26.07.2025

The Pioneer: Vor genau 80 Jahren – nach Ende des Zweiten Weltkriegs – begann mit der Potsdamer Konferenz eine neue Etappe der deutschen Geschichte. Warum war diese Konferenz so wichtig und welche Schlüsse können wir daraus für die Gegenwart ziehen?

Oliver Hilmes: Im Sommer 1945 trafen sich die „Großen Drei“, um eine Nachkriegsordnung für Deutschland und Europa zu entwickeln: Winston Churchill, der britische Premierminister, Josef Stalin, der sowjetische Diktator, und der amerikanische Präsident Harry S. Truman. Ursprünglich sollte das Treffen in Berlin stattfinden, doch weil dort kein Stein mehr auf dem anderen stand und es keine Infrastruktur gab, verlegte man es ins weniger zerstörte Potsdam. Churchill und Stalin kannten sich bereits vorher, Truman war jedoch erst seit wenigen Wochen im Amt, weil Franklin D. Roosevelt – der die Wahl eigentlich gewonnen hatte – plötzlich verstarb. Truman, der die anderen noch nicht persönlich kannte, versuchte, gemeinsam mit Churchill, Stalin „einzufangen“ und für die neue Nachkriegsordnung zu gewinnen. Allerdings stellte sich schnell heraus, dass man den Sowjets nicht trauen konnte: Churchill schrieb bereits am 12. Mai 1945 ein Telegramm an Truman, in dem es heißt, dass „ein eiserner Vorhang niedergegangen ist“.

Winston Churchill, Harry S. Truman und Josef Stalin auf der Potsdamer Konferenz 1945. © imago
Weimarer Verhältnisse? – mit Oliver Hilmes

Was uns Geschichte lehrt: Parallelen, Brüche und die Versuchung schneller Analogien.

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Veröffentlicht in Der 8. Tag.

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The Pioneer: War es das erste Mal, dass diese Formulierung fällt?

Hilmes: Ja, er hat sie in einer späteren Rede in Amerika nochmal verwendet, aber soweit ich weiß, zuerst in diesem Telegramm erwähnt. Truman und Churchill wissen zu diesem Zeitpunkt nicht, was hinter diesem Eisernen Vorhang vor sich geht, und die große Gefahr bestand darin, dass immer mehr osteuropäische Länder unter den Machteinfluss Moskaus geraten könnten – was sich bewahrheitete. Bis Februar 1948 sind Albanien, Bulgarien, Rumänien, Polen, Ungarn und die Tschechoslowakei völlig unter sowjetischen Einfluss geraten. Stalin betrieb also eine Sowjetisierung Osteuropas. Truman hatte nun das Problem, dass es eine große isolationistische Bewegung in den Vereinigten Staaten gab: Eine große politische Mehrheit war der Meinung, dass US-Soldaten zurückkehren sollten. Der Krieg war gewonnen, Hitler war tot und die Europäer sollten selbst sehen, wie sie klarkommen. Gleichzeitig konnte man nicht gutheißen, was in Osteuropa geschah.

The Pioneer: Gab es gegenüber der Sowjetisierung nicht auch ein Streben nach einer Amerikanisierung seitens Truman und Churchill, die, wie Stalin, ihre Machtposition ausbauen wollten?

Hilmes: Ja, allerdings lässt sich das nicht vergleichen. 1943 gab es eine Konferenz in Teheran und im Frühjahr 1945 eine in Jalta, wo es politische Bestrebungen gab, Deutschland zu zerstückeln: Es sollte aufhören, als Einheitsstaat zu existieren, und so zerschlagen werden, dass keine Gefahr mehr von diesem Land ausgehen kann. Davon rückte man aber relativ schnell ab, weil man erkannte, dass es zwischen West- und Osteuropa einen Pufferstaat braucht – also Deutschland. Insofern hatten die Amerikaner schon eigene Interessen, aber das war etwas anderes als sich Länder einzuverleiben und sie diktatorisch zu beherrschen, so, wie Stalin das vorhatte.

The Pioneer: Stalin verzögerte eine Konferenz, um die Westmächte in Bezug auf die deutsche Ostgrenze vor vollendete Tatsachen zu stellen. Wenn man an die Ukraine denkt, die sich aus Putins Sicht „zu westlich“ orientiert hat, könnte man dann Stalin durch Putin ersetzen?

Hilmes: Ja, dazu möchte ich gerne nochmal zurückblicken: Truman hat damals versucht, die isolationistischen Bestrebungen der USA zu überwinden und sagte, dass man sich nicht zurückziehen könne, weil sonst etwas Schreckliches passiert. Gemeinsam mit seinem Außenminister James Byrnes und dem Botschaftsrat in Moskau, George F. Kennan, nahm er eine Neuausrichtung der amerikanischen Außenpolitik vor, die im Frühjahr 1947 in der „Truman-Doktrin“ gipfelte: alle Länder Europas, die in Freiheit und Frieden leben wollen und die bedroht sind, in den Machtbereich Moskaus zu geraten, sollten die Hilfe Amerikas bekommen. Truman sprach davon, dass es „zwei Hälften einer Walnuss“ seien.

Die „Truman-Doktrin" von 1947. © imago

The Pioneer: Was war die andere Hälfte?

Hilmes: Die andere Hälfte der Walnuss war der Marshallplan: Man steht den Ländern notfalls auch militärisch bei, damit sie nicht unter die Herrschaft Moskaus geraten, bei gleichzeitiger finanzieller Hilfe. Das war clever und eine Politik der Eindämmung, die über Jahrzehnte geführt wurde.

The Pioneer: Stalin akzeptierte Roosevelt und Churchill als Partner, wohingegen Truman und Byrnes in seinen Augen unerfahren, unterlegen und „das Produkt eines fehlerhaften und schwachen demokratischen Systems“ waren. Lässt sich das auch auf Putin übertragen, wenn man sich fragt, wen er ernst nimmt und wen nicht?

Hilmes: Es gibt sicherlich Ähnlichkeiten zwischen den Persönlichkeiten, etwa das Herrschaftsgebaren, Menschen immer warten zu lassen. Bei der Potsdamer Konferenz mussten Churchill und Truman den ganzen Tag auf Stalin warten, der so demonstrieren konnte, dass er entscheidet, wann es losgeht. Putin wird so ein Verhalten ebenfalls nachgesagt. Stalin hat sich allerdings in Truman geirrt: Er mag zwar unerfahren gewesen sein, doch er verstand relativ schnell nach seiner Amtseinführung, wie es läuft. Während seiner Präsidentschaft wurde er oft kritisiert, aber rückblickend muss man sagen, dass Harry S. Truman zu den großen und starken Präsidenten im 20. Jahrhundert gehörte.

The Pioneer: Wie passt das mit Trumans Entscheidung des Atombombenabwurfs auf Hiroshima zusammen? Man sagt, dass er nicht gewollt habe, dass die Japaner vor dem Abwurf kapitulierten, weil er die Sowjets beeindrucken wollte.

Hilmes: Die Umstände werden in der Geschichtswissenschaft immer noch diskutiert. Als Truman mit dem Schiff zur Potsdamer Konferenz fuhr, war von den beiden Atombomben noch keine Rede. Zuvor gab es nur Tests in der Wüste, von denen einer dann erfolgreich ausging: „The baby is born“, eine Code-Formulierung, die Truman erhielt, als er bereits in Potsdam war, und die ihm klar machte, dass man das Kartenspiel ganz neu mischen kann. Man darf nicht vergessen, dass der Zweite Weltkrieg am 8. Mai 1945 in Europa, nicht aber im Pazifik beendet war. Die Amerikaner und die Japaner waren nach wie vor in einen blutigen Krieg verwickelt und man befürchtete, dass bei einer Invasion der japanischen Hauptinsel – die ja noch bevorstand – 150.000 amerikanische GIs fallen könnten. Ein schwerer Verlust.

The Pioneer: Und dann entschied man sich, die Bombe abzuwerfen?

Hiroshima nach dem Atombombenangriff im August 1945. © imago

Hilmes: Man hoffte, so die Kapitulation Japans herbeiführen zu können, weil die diversen Ultimaten zuvor keinen Erfolg brachten. All das führte zum ersten Abwurf und schließlich zum zweiten über Nagasaki. Auf diese Weise wollte man auch die Sowjets warnen und die horrenden Produktionskosten des „Manhattan-Projekts“, das Codewort für die Entwicklung der Atombombe, in irgendeiner Weise „rechtfertigen“. Man wollte den Leuten zeigen, dass die Millionen von Dollar gut investiert waren und das Ding funktioniert. Es klingt sehr zynisch, aber das war sicherlich auch eine Motivation.

The Pioneer: In Ihrem Buch gibt es auch einen Zeugenbericht aus Hiroshima, der das Ausmaß verdeutlicht.

Hilmes: Ja, ich erwähne darin einen Arzt, der den Atombombenabwurf überlebt hat und schildert, was er gesehen hat: Ein Mann saß, während die Atombombe explodierte, auf einer Marmorbank. Von dem Mann war hinterher nichts mehr übrig, aber seine Umrisse waren im Marmor eingebrannt. Es treibt einem Tränen in die Augen, wenn man sich vorstellt, dass Menschen im Bruchteil einer Sekunde verglüht sind. Zoomt man aber in die Situation rein, so findet man Strukturen und Prozesse, die die beiden Abwürfe erklärbar machen – was selbstverständlich nicht heißt, dass es richtig war. In der Geschichtswissenschaft geht es auch nicht darum, etwas gut oder schlecht zu finden, sondern darum, Zusammenhänge zu erklären.

The Pioneer: Inwiefern lassen sich dann die Protagonisten der Potsdamer Konferenz mit heutigen Akteuren wie Donald Trump, aber auch Friedrich Merz vergleichen?

Hilmes: Es reicht, wenn man sich auf Trump und Truman beschränkt. Allein da fällt auf, dass Trump eine Politik betreibt, die mit den Gepflogenheiten der amerikanischen Nachkriegspolitik bricht. Trump gibt der Ukraine nicht die Überlebenszusage, die Truman den osteuropäischen Ländern noch gab. Trump schmeißt Selenskyj aus dem Oval Office, demütigt ihn und trifft sich dann erneut in Ruhe mit ihm. Es ist ein ständiges Hin und Her, es gibt keine „Trump-Doktrin“. Er ist kein Präsident, der eine wertegeleitete Politik in Europa betreibt – er will Deals machen und zwar ganz eigennützig. Deshalb kann er sich auch mit einem Diktator wie Putin in einen Austausch begeben, was Truman niemals in den Sinn gekommen wäre.

Trump und Selenskyj im Weißen Haus am 28.02.2025 © imago

The Pioneer: Letztendlich sind die osteuropäischen Länder trotzdem von der Sowjetunion geschluckt worden. Was hat Trumans Zusage gebracht?

Hilmes: Es gibt bestimmte und komplexe Gründe, warum beispielsweise Rumänien und Ungarn in den sowjetischen Einflussbereich geraten sind. Was Deutschland betrifft, so haben wir als Land sehr von der Truman-Doktrin profitiert – wer weiß, was sonst geschehen wäre. Gleichzeitig ist das Gebaren von Donald Trump natürlich besorgniserregend. Wir leben in Zeiten, die einem riesigen Umbruch gleichen, weil es keine Verlässlichkeit mehr gibt. Wir betreiben eine Aufrüstung, die vor anderthalb Jahren undenkbar gewesen wäre. Trump hat bereits in seiner ersten Präsidentschaft gesagt, dass die Europäer was tun müssen.

The Pioneer: Auch Barack Obama äußerte sich in diese Richtung.

Hilmes: Ja, es ist nicht nur die Erkenntnis Trumps. Die Europäer haben sich einen schlanken Fuß gemacht, vor allem die Deutschen. Nun befinden wir uns in Sachen Verteidigung in einer politischen Entwicklung. Wir stehen vor großen Veränderungen.

Teil eins des Gesprächs finden Sie hier.

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