Opiumbauern, Islamisten, Rüstungskonzerne: Die Gewinner des Afghanistan-Debakels

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Guten Morgen,

man könnte meinen, es geht in Afghanistan um ein wirtschaftlich trostloses und politisch irrlichterndes Land irgendwo hinterm Horizont. Doch der Eindruck täuscht. Der Machtwechsel in Kabul bedeutet ein Wetterleuchten, das von einem politischen Extremwetterereignis für den Westen kündet:

1. Der mächtigste Mann der freien Welt erlebt eine außenpolitische Niederlage der wuchtigen Art, die wie ein Hurrikan auch seine innenpolitischen Vertrauensvorräte verwüstet. Die Zustimmungsrate für Joe Biden brach ein. Der Kommentar bei Bloomberg:

Dieser Rückzug war kaltschnäuzig, selbstverliebt und falsch.

Eine Infografik mit dem Titel: Biden verliert an Zustimmung

Macht President Biden seinen Job gut? Durchschnittliche Werte von nationalen US-Umfragen, in Prozent

2. Trump triumphiert. Auf einer Wahlveranstaltung in Cullman, Alabama, sagte er am Wochenende: „Biden verantwortet die größte außenpolitische Erniedrigung in der Geschichte der Vereinigten Staaten.“ Fest steht: Die Mehrheit der Amerikaner sagt, ihr Land bewege sich in die falsche Richtung.

Eine Infografik mit dem Titel: USA steuern in die falsche Richtung

Steuert das Land in eine positive Richtung? Durchschnittliche Werte von nationalen US-Umfragen, in Prozent

3. Wenn Biden Pech hat, geht der nächste große Terroranschlag auf sein Konto. Denn dank der US-Waffen, die von der afghanischen Armee zu den Taliban wechselten, handelt es sich um die bestausgerüstete islamistische Terrormiliz aller Zeiten, sagt Prof. Peter Neumann, Terrorexperte am King’s College in London.

Bewaffnete Taliban-Kämpfer © dpa

4. Die Drogenbarone und ihr Geschäftsmodell wurden gestärkt. Afghanistan ist wieder der größte Exporteur von Opiaten. Schon der Teilrückzug der westlichen Streitkräfte ab 2015 führte zu einem Allzeithoch der für die Opiate genutzten Anbauflächen. Das Taliban-Regime ist auf die Gelder aus dem Drogenanbau dringend angewiesen.

Eine Infografik mit dem Titel: Land der Opiumbauern

Anbau von Schlafmohn in Afghanistan seit 1994, in Tausend Hektar

5. Der größte ökonomische Profiteur des Abenteuers in Afghanistan ist die US-Rüstungsindustrie. Die amerikanische Newsplattform „The Intercept“ rechnet vor: Wer am 18. September 2001 – dem Tag, an dem Präsident Bush den Krieg offiziell autorisierte – für 100.000 Dollar Aktien der Top fünf Rüstungsunternehmen der USA kaufte (und die Dividenden fleißig in diese Aktien reinvestierte), konnte seinen Einsatz verzehnfachen und besitzt nun annähernd eine Million US-Dollar. Das bedeutet: Die Rüstungsaktien haben in der Zeit des Afghanistankrieges den S&P 500 um 58 Prozent übertroffen.

Eine Infografik mit dem Titel: Rüstung first

Aktienkurs von Lockheed Martin seit Beginn des Afghanistan-Einsatzes im September 2001, in US-Dollar

Eine Infografik mit dem Titel: Der geringere Aufstieg

S&P-500-Index seit Beginn des Afghanistan-Einsatzes im September 2001, in Punkten

6. Warten auf den Flüchtlingstreck. Alle Experten rechnen mit erhöhtem Migrationsdruck, der sich in Zeltstädte im Iran und in Pakistan entladen dürfte. Aber: Auch der Weiterzug nach Europa ist denkbar. Anders als bei den Fluchtwellen aus Syrien und Afrika befindet sich die Bundesrepublik diesmal in der Schuld der Flüchtenden. Der Satz „2015 darf sich nicht wiederholen“ ist zwar innenpolitisch verständlich, aber aus humanitären Gründen womöglich nicht haltbar. Diese Flüchtlinge sind auch unsere Flüchtlinge.

Eine Infografik mit dem Titel: Milliarden für den Krieg

Ausgaben der USA für den Afghanistankonflikt*, in Milliarden US-Dollar

7. Die Debatte um eine großangelegte Hilfsaktion dürfte schon den für kommende Woche geplanten G7-Gipfel dominieren. Der Westen will nun mit Geld beweisen, was die „westlichen Werte“ ihm wert sind. Das bedeutet: Der Krieg ist beendet, die Kostenstelle läuft weiter. Die Soldaten gingen, aber unser Geld kehrt nach Afghanistan zurück.

Die Konsequenzen des Afghanistan-Debakels für die deutsche Politik

Außerdem: Gordon Repinski berichtet aus Usbekistan vom dortigen Bundeswehr-Drehkreuz

Podcast hören

Veröffentlicht in Hauptstadt – Das Briefing von Michael Bröcker Gordon Repinski .

Podcast mit der Laufzeit von

Die aktuelle Lage nach dem Wochenende:

  • Die Bundeswehr führt weitere Evakuierungsflüge durch. Insgesamt konnten seit Beginn der Rettungsaktion um die 2000 schutzbedürftige Menschen durch deutsche Kräfte in Sicherheit gebracht werden. Darüber hinaus liefert die Luftwaffe Hilfsgüter zum Kabuler Flughafen.

Evakuierung aus Kabul mit einer Bundeswehr-Maschine.  © dpa
  • Derweil bleibt die Lage dort chaotisch. Bei einer Massenpanik am Samstag sind sieben Zivilisten umgekommen. Die Zahl aller Todesopfer binnen einer Woche summiert sich auf 20.

  • Um die Evakuierung zu beschleunigen, haben die USA die Beteiligung ziviler Fluggesellschaften zum Weitertransport schutzbedürftiger Menschen von den Luftstützpunkten in Bahrain, Qatar und den Vereinigten Arabischen Emiraten angeordnet.

  • Im Rahmen ihrer Russlandreise hat Bundeskanzlerin Merkel den russischen Präsidenten Putin gebeten, bei den Taliban auf eine Ausreisemöglichkeit für afghanische Ortskräfte hinzuwirken.

Merkel und Putin © dpa
  • Indes erteilte ihr der türkische Präsident Erdoğan in einem Telefonat eine Absage, weitere afghanische Schutzsuchende aufzunehmen. Auch der österreichische Bundeskanzler Kurz sprach sich im Sommergespräch gegen eine Aufnahme afghanischer Flüchtlinge in seinem Land aus:

Das wird es unter meiner Kanzlerschaft nicht geben.

  • Am Dienstag wollen sich die Staats- und Regierungschefs der G7 zu einem virtuellen Sondergipfel zusammenfinden, wie der britische Premierminister Boris Johnson auf Twitter mitteilte. Das Top-Thema: Afghanistan.

Laschet und Söder © dpa

Am Samstag inszenierten Armin Laschet und Markus Söder eine Geschlossenheit, die es zwischen ihnen beiden niemals geben wird. CSU-Chef Söder sagt während seiner Rede im Berliner Tempodrom:

Klare Führung an der Spitze kann weder Olaf Scholz, noch Frau Baerbock, sondern nur die Union... (Pause)... mit Armin Laschet an der Spitze.

Diese gespielte Einigkeit hat die Union bitter nötig angesichts des erneuten Umfrageschocks, von dem das Meinungsinstitut Insa für die „Bild am Sonntag“ berichtet: Gleichstand zwischen Union und SPD bei jeweils 22 Prozent, zum ersten Mal seit über vier Jahren; das letzte SPD-Hoch dieser Art ereignete sich auf dem Höhepunkt des Schulz-Hypes, der schließlich wie ein erkaltendes Soufflé in sich zusammensackte.

Olaf Scholz © imago

Die Grünen indes kommen auf 17 Prozent und verlieren einen Prozentpunkt. Bei einer Direktwahl würden derzeit 34 Prozent der Befragten für Olaf Scholz stimmen. Das bedeutet ein Plus von fünf Prozentpunkten im Vergleich zur Vorwoche. Scholz liegt in dieser Art Umfragen seit Monaten vorn. Die Relevanz dieser Frage wird von den meisten Demoskopen bezweifelt: Gewählt werden in Deutschland Parteien, nicht ihre Spitzenkandidaten.

 © imago

Die Zahl der Menschen, die sich nachweislich neu mit Corona infiziert haben, hat sich seit Anfang August verdreifacht. Am Wochenende stieg die deutschlandweite Sieben-Tage-Inzidenz erstmals seit Mai über 50. Stand Sonntag lag der Wert bei 54,5 (pro 100.000 Einwohner). Eine Woche zuvor lag er bei nur 35.

Im bevölkerungsreichsten Bundesland, Nordrhein-Westfalen, ist der Inzidenzwert auf fast 100 gestiegen. Laut Angaben des Robert Koch-Instituts am Sonntag erreichte das Bundesland eine Sieben-Tage-Inzidenz von 99,2. Berlin war mit einem Inzidenzwert von 67,3 auf Platz zwei der Infektions-Hitparade.

Peter Altmaier © dpa

Indes versucht Wirtschaftsminister Peter Altmaier die aufkeimende Angst vor einem weiteren Lockdown zu zerstreuen. Er sagte der Funke Mediengruppe:

Nach allem, was wir heute wissen, können wir einen neuen Lockdown für Geimpfte und Genesene vermeiden.

Magic Mushrooms © dpa

Magic Mushrooms, auch bekannt als Zauberpilze, gelten in Deutschland als illegale Droge. Der Grund: Ihre halluzinogene Wirkung. Wer diese Substanzen zu sich nimmt, geht auf einen Trip, der ihn aus der Wirklichkeit entführt und in eine neue Welt der Farben, Klänge und der unterdrückten Gefühle geleitet.

Doch so manches, was heute als illegal gilt, entfaltet vielleicht schon morgen in der Therapie von Krankheiten seine segensreiche Wirkung. Darauf setzt in diesem Fall der in London ansässige Investor Christian Angermayer. Mit seinem Unternehmen Apeiron investiert er in Firmen der Bereiche Fintech, Crypto und Biotech. 40 Mitarbeiter unterstützen ihn bei seinen ca. 80 Portfoliounternehmen.

Christian Angermayer © Media Pioneer

Im Podcast sprechen wir heute Morgen nur über eines, das sich atai Life Sciences nennt, an der Nasdaq gelistet ist und derzeit mit rund 2,2 Mrd. Dollar bewertet wird. Atai forscht daran, die synthetischen Substanzen der Pilze in einem Medikament zu verdichten, das Menschen mit Traumata und Depression helfen könnte. Zehn Produkte – die alle auf den in den Pilzen enthaltenen Stoff Psilocybin setzen – befinden sich in der Pipeline. Noch hat keines eine amtliche Zulassung.

Klick auf Bild führt zur Podcast-Page

Atai ist daher eine Forschungsfirma – so wie vor kurzem BioNtech aus Mainz – die das Geld der Anleger vernichten oder vervielfältigen kann. Silicon-Valley-Ikone Peter Thiel (Paypal, Facebook und Palantir Technologies) hat sich daran beteiligt.

Christian Angermayer, der an sich selbst (außerhalb der deutschen Landesgrenze) die Wirkung von Magic Mushrooms ausprobiert hat, berichtet von dem, was dann geschah:

Es ist, als würde ein Computer herunterfahren. Das Ego verschwindet und damit ganz viele Sachen, an die man gewohnt ist. Dafür kommt etwas anderes zutage, das nur schwer zu definieren ist. Manche würden sagen, dass man sich selber in der dritten Person sehen kann. Dass man in die Seele blickt.

Er ist überzeugt:

Selbst Erkrankte mit einer sehr starken Depression können durch einen Mushroom-Trip mit hoher Erfolgsquote geheilt werden. Das ist ein unglaublicher Fortschritt im Bereich der mentalen Gesundheit.

Bevor Sie diesen Podcast hören, fragen Sie besser nicht Ihren Arzt oder Apotheker.

Neue Nationalgalerie © dpa

Nach jahrelanger Renovierung wurde die Neue Nationalgalerie in Berlin, die einst mit Künstlern wie Andy Warhol, Gerhard Richter und Jenny Holzer von sich reden machte, wiedereröffnet. 140 Millionen Euro kosteten die sechsjährigen Sanierungsarbeiten unter Leitung des britischen Architekten David Chipperfield, der das 1968 von Mies van der Rohe hinterlassene Bauwerk unter dem Motto „So Mies wie möglich“ akribisch wiederherstellte. 35.000 Bauteile wurden demontiert, restauriert und wieder in ihre herkömmliche Position eingefügt.

David Chipperfield © dpa

Nach festlicher Eröffnung am Samstag ist nun auch wieder der Jedermann willkommen. Ein Gefühl der Verletzlichkeit und Angreifbarkeit habe bei der Eröffnung in der Luft gelegen, schreibt die „Süddeutsche Zeitung“. Denn:

Die Neue Nationalgalerie ist zum Jahresende 2014 geschlossen worden, um sie mit viel Aufwand wieder zu dem zu machen, was sie ursprünglich einmal war. Ihre Wiedereröffnung erfolgt nun aber in einer Zeit, in der gern dekretiert wird, dass es so, wie es war, nicht nur heute nicht mehr weitergehen, sondern am besten auch damals gar nicht erst gewesen sein sollte.

Der „Tagesspiegel“ schaut großzügig durch die politische Korrektheit dieser Tage hindurch, die sich auch an diesem Bauwerk und seinem Schöpfer abzuarbeiten versucht. Wie schön: Man hat bei Berlins großer Tageszeitung das Schwärmen nicht verlernt:

Berlin bekommt ein Juwel der Avantgarde im Original zurück.

Nachwuchs-Journalisten © Anne Hufnagl

Journalismus – neu denken! Das war das Motto eines zweitägigen Ausflugs von 18 Nachwuchs-Journalisten und -Journalistinnen mit der Pioneer One. Geführt von der Publizistin Diana Kinnert und assistiert von Podcast-Host Chelsea Spieker, Bordfotografin Anne Hufnagl und Romina Quindos von der Pioneer Foundation fahndeten die Teilnehmer nach dem, was kommt und dem, was bleibt.

 © Anne Hufnagl

Wie gelingt Vertrauensbildung in einer unübersichtlichen Kultur der inszenierten Ausschnitte?

Wo endet die journalistische Aufgabe und wo beginnt der politische Aktivismus?

Wie viel Unterhaltung verträgt der „Ernst der Lage“?

Was ist der Kern vom Kern des Journalismus?

 © Anne Hufnagl

Diana Kinnert fasste die zweitägige Suchbewegung so zusammen:

In uns wurde eine neue Demut gegenüber der journalistischen Aufgabe geweckt.

Diana Kinnert © Anne HufnaglChelsea Spieker © Anne Hufnagl

Ich danke den journalistischen Nachwuchstalenten für ihr Engagement und ihre Zuversicht. Es war wunderbar, euch zu erleben. Uns allen wünsche ich einen kraftvollen Start in die neue Woche.

Herzlichst grüßt Sie

Ihr

Pioneer Editor, Herausgeber The Pioneer
  1. , Pioneer Editor, Herausgeber The Pioneer

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