USA: Das zerrissene Land

Teilen
Merken

Guten Morgen,

Donald Trump ist wahrscheinlich Geschichte, aber Joe Biden noch nicht die Zukunft. Der sich abzeichnenden Niederlage des Amtsinhabers steht bisher kein Sieg des Herausforderers gegenüber. Die Gleichung geht nicht auf: Amerika hat gewählt, aber sich nicht wirklich entschieden. Die Stimmenauszählungen in Pennsylvania, Georgia, North Carolina, Arizona und Nevada laufen noch immer.

Beide Kandidaten rücken immer dichter zueinander. Trump warnt seine Anhänger bei einem Auftritt im Presseraum des Weißen Hauses um 00.30 Uhr deutscher Zeit: „Wir können nicht zulassen, dass eine Wahl gestohlen wird.“ Die Fernsehsender ABC, CBS und NBC brechen daraufhin die Übertragung ab. Reality-TV in einem zerrissenen Land.

 © dpa

Wenn Joe Biden es schaffen sollte, die ihm noch fehlenden Wahlmänner Stimmen - derzeit 253 von 270 - einzusammeln, ist er ein Präsident ohne Land. Wenn er vor die Landkarte der Wahlmänner tritt, sieht er überall rot. Die Hälfte der Bewohner seines Landes hat republikanisch gewählt, 57,5 Prozent der Fläche Amerikas sind für ihn de facto eine No-go-Area. Man könnte am heutigen Morgen in Montana im County Teton, in dem 70,6 Prozent Trump gewählt haben, losreiten, käme über Iowa, Kentucky, Tennessee, Alabama und würde bis hinunter nach Miami keinen einzigen demokratischen Bundesstaat durchqueren.

Eine Infografik mit dem Titel: 2020: Trump vs. Biden

Übersicht über die bereits gewonnen und verlorenen Staaten bei der US-Wahl

  • Der einsame Reiter käme in Wyoming vorbei, wo 70,4 Prozent der überwiegend christlichen, weißen Wähler Donald Trump den höchsten Wahlsieg in einem Bundesstaat bescherten.

  • Er würde Alabama durchqueren, wo 62,5 Prozent der Menschen Trump gewählt haben.

  • Schließlich würde diese einsame Reise ihn nach West Virginia führen, das mit knapp 1,8 Millionen einer der kleinsten und ärmsten Staaten ist. 93,9 Prozent der Bevölkerung sind Weiße. In keinem anderen Bundesstaat ist der Akademikeranteil so gering wie in West Virginia. Trump erzielt hier mit 68,7 Prozent das zweithöchste Ergebnis nach Wyoming.

Eine Infografik mit dem Titel: 1960: Kennedy vs. Nixon

Übersicht über die gewonnen und verlorenen Staaten bei der US-Wahl

  • Die Reise endet in Miami-Dade, wo in bisher nicht gekannter Zahl auch Hispanos Trump gewählt haben: Gemäß ersten Umfragen stimmten 60 Prozent mehr für ihn als 2016.

Die wahre Mauer dieser Tage verläuft nicht an der Südgrenze der USA, sondern geht mitten durch. Sie ist gebaut aus Tradition und Ressentiment, verklebt mit einer tief sitzenden Abneigung für die Kultur des jeweils anderen. Nur unter Ronald Reagan war die Einsamkeit der Demokraten größer, weshalb sie damals auch in der Opposition verschwanden.

Eine Infografik mit dem Titel: 1980: Reagan vs. Carter

Übersicht über die gewonnen und verlorenen Staaten bei der US-Wahl

Der politischen Einteilung ist eine kulturelle vorausgegangen:

Die einen hassen die Medien, die anderen die Polizei.

Die einen lesen „New York Times“, die anderen nichts.

Die einen essen Sushi, die anderen Steak, um ihren „red meat need“ zu befriedigen.

Sie nennen es verächtlich Provinz, die anderen stolz Heimat.

Die einen marschieren mit bei „Black Lives Matter“, die anderen gehören zu den Milizen der „Proud Boys“.

 © dpa © dpa

Die einen rufen: „MeToo!“. Die anderen beten bis heute zum Frauenverächter und bekennenden Fremdgeher Trump:

You have to grap her by her pussy.

 © imago

Amerika ist schon seit Längerem kein Land mehr, sondern eine Fiktion. Die Flagge wird auch deshalb rituell gehisst und die Nationalhymne so inbrünstig gesungen, weil dahinter das Meer der Selbstzweifel beginnt. „Who are we?“, fragte Samuel Huntington in seinem gleichnamigen Bestseller. Spätestens in den 60er Jahren, so Huntington, begann die Identität zu erodieren.

Eine Infografik mit dem Titel: 1996: Clinton vs. Doyle

Übersicht über die gewonnenen und verlorenen Staaten bei der US-Wahl

Der Modernisierungsschub im Gefolge von Globalisierung und Digitalisierung hat diese Prozesse vorangetrieben. Die Welt rückte durch die neuen Technologien und einen rasant beschleunigten Welthandel einander näher, wurde zum globalen Dorf; Amerika aber begann zu driften. Die tektonischen Platten zwischen Stadt und Land, Ost- und Westküste, zwischen Nord- und Südstaaten haben sich seither derart ineinander verkantet, dass man sich an den Schnittkanten nur verletzen kann. Auch deshalb betreten die Eliten aus Los Angeles und San Francisco, aus New York und Washington D.C. diesen Landesteil nur höchst ungern. Sie kennen das weite Land nur aus dem Flugzeug und sprechen, wenn sie unter sich sind, von den „flyover states“.

Eine Infografik mit dem Titel: 2000: George W. Bush vs. Al Gore

Übersicht über die gewonnenen und verlorenen Staaten bei der US-Wahl

Wenn ein amerikanischer Demokrat sich richtig wohlfühlen will, dann muss er nach Washington D.C. kommen. Insgesamt erreichen die Demokraten in der Hauptstadt 93,4 Prozent. Republikaner sind in der Innenstadt seltener als Braunbären.

Deshalb hat das andere Amerika einen wie Donald Trump hierhin geschickt. Auch wenn Trump geht, der Trumpismus bleibt. Das andere Amerika kann man verachten und demütigen, aber abwählen kann man es nicht.

Kurz vor Ende der ersten Woche des Teil-Lockdowns bleibt die Lage angespannt. Die Zahl der gemeldeten Neuinfektionen innerhalb eines Tages steigt auf 21.506 Neuinfektionen, wie das Robert Koch-Institut um kurz vor 6 Uhr mitteilte. Das ist der höchste Wert seit Beginn der Pandemie in Deutschland. Politisch stoßen laut dem gestern veröffentlichten DeutschlandTrend der ARD die Maßnahmen der Regierung weiter auf Zustimmung. 79 Prozent der Befragten geben an, dass ohne strengere Regeln die Pandemie nicht in den Griff zu bekommen sei, 19 Prozent widersprechen.

Die Wirtschaftswissenschaft beendet das Wunschdenken und kassiert alle rosigen Vorhersagen der letzten Monate: Die Wirtschaftsleistung in den 19 Staaten der Eurozone wird dieses Jahr im Schnitt um 7,8 Prozent einbrechen, in den 27 EU-Staaten insgesamt um 7,4 Prozent. Man habe nie wirklich auf das „V“ – starker Einbruch und genauso starker Aufschwung – vertraut, sagte EU-Wirtschaftskommissar Paolo Gentiloni.

Jetzt wissen wir sicher, dass es nicht kommt.

 © dpa

Alarmstimmung herrscht mittlerweile im Einzelhandel: In den Einkaufsstraßen vieler Innenstädte herrscht gähnende Leere. Der Handelsverband Deutschland warnt, dass bis zu 50.000 Geschäfte in ihrer Existenz gefährdet seien.

 © dpa

Europa und Deutschland haben einen Wunsch an den künftigen Mann im Weißen Haus: Make America normal again. Aber was würde sich eigentlich ein Präsident Joe Biden von uns wünschen? Beziehungsweise: Wie sollten sich dann Deutschland und Europa am besten verhalten? Darüber unterhält sich „Welt”-Chefredakteurin Dagmar Rosenfeld im Morning Briefing Podcast mit dem Diplomaten Wolfgang Ischinger, der seit über zehn Jahren die Münchner Sicherheitskonferenz leitet, und mit Constanze Stelzenmüller vom Thinktank Brookings Institution in Washington D.C.

Wolfgang Ischinger, Deutschlands früherer Botschafter in den USA und Großbritannien sowie Staatssekretär im Auswärtigen Amt, sagt über einen möglichen Präsidenten Biden:

Wir in Europa würden das Falsche machen, wenn wir jetzt zu dem Schluss kämen: Nach diesen vier Schreckensjahren Trump lehnen wir uns gemütlich zurück, denn jetzt wird alles wieder gut.

Auf die Frage, ob auch Joe Biden als Staatschef eine „America First”-Politik verfolgen würde, sagt Ischinger:

Er muss die politische Stimmung, die sich in Amerika in den vergangenen Jahren aufgebaut und jetzt manifestiert hat, widerspiegeln. Er wird sagen müssen: ,I will be tough on China.’ Das hat er im Wahlkampf gesagt, das wird er fortsetzen. Er wird sagen müssen: ,Wir sind nicht begeistert, wenn unser wichtigster europäischer Partner zwar von uns militärischen Schutz erwartet, seinen Verpflichtungen in diesem Bereich aber nicht nachkommt.

Constanze Stelzenmüller, gebürtige Bonnerin, ist Publizistin und Juristin. Sie forscht seit sechs Jahren in der US-Hauptstadt als Senior Fellow für die Brookings Institution. Über Trumps Erfolg in breiten Teilen der US-Bevölkerung sagte sie:

Viele dieser Wähler, die Trump gewählt haben, haben nach wie vor das Gefühl: Dieser Mensch hört und sieht uns. Wir sind in der Wahrnehmung der klassischen liberalen Eliten nur Manövriermasse, wenn überhaupt.

Nach dem Tod von Bundestagsvize Thomas Oppermann wollte die SPD-Fraktionsspitze möglichst geräuschlos eine Nachfolgerin finden. Doch bereits seit mehr als einer Woche läuft intern die Debatte - trotz Beteuerung, man wolle die Pietät wahren.

 © Media Pioneer

Zahlreiche Abgeordnete unterstützen die ehemalige Bundestags-Vizepräsidentin und Gesundheitsministerin Ulla Schmidt - doch die Fraktionsspitze will deren Fraktionskollegin Dagmar Ziegler vorschlagen. SMS, interne Absprachen, Abstimmungen mit zahlreichen Gegenstimmen folgten. Die Chronologie eines Prozesses, der alles ist - nur nicht geräuschlos.

Außerdem im Newsletter „Hauptstadt Das Briefing“: Wer sind eigentlich die Europa-Berater von Joe Biden? Unsere Redaktion nennt die Namen der neuen Powerbroker.

 © dpa

An der Dax-Spitze setzt die Aktie des Essenslieferanten Delivery Hero ihren Siegeszug mit neuen Kursrekorden fort. Der Lockdown der Gastronomie macht’s möglich.

Gestern kletterte die Aktie auf über 115 Euro, ein Kursplus von fast zehn Prozent. Im Jahresverlauf ist Delivery der mit Abstand erfolgreichste Wert im Leitindex mit einem Kursgewinn von fast 63 Prozent, während beim Dax ein Verlust von rund 5 Prozent zu Buche steht.

 © dpa

Linde kommt besser als andere und besser als erwartet durch die Corona-Pandemie. Im dritten Quartal erhöhte sich der bereinigte Gewinn je Aktie im Jahresvergleich um 11 Prozent auf 2,15 Dollar. Der Kurs der Linde-Aktie stieg auf den höchsten Stand seit Mitte September.

Unternehmenschef Steve Angel setzt auf das Geschäft mit Wasserstoff. Linde erzielt nach seinen Angaben schon heute mehr als zwei Milliarden Dollar Umsatz mit Produktion, Vertrieb, Speicherung und Anwendung von Wasserstoff. Angel:

Und angesichts der erwarteten Investitionsvorhaben von mehr als 100 Milliarden Dollar denke ich, dass sich unser Wasserstoffgeschäft in Zukunft vervierfachen könnte.

 © dpa

Die Lufthansa fliegt mit dem Ballast eines weiteren Milliardenverlusts in den harten Corona-Winter. Abschreibungen auf nicht mehr benötigte Jets und Kerosin-Kontrakte haben den Verlust für das dritte Quartal auf knapp 2 Milliarden Euro anwachsen lassen. Nach neun Monaten steht nun unter dem Strich bereits ein Minus von 5,6 Milliarden Euro bei einem Umsatz von 11 Milliarden Euro. Der operative Abfluss von Barmitteln beschleunigt sich und soll im Winter auf maximal 350 Millionen begrenzt werden. Vorstandschef Carsten Spohr untertreibt, wenn er sagt:

Wir stehen am Beginn eines Winters, der für unsere Branche hart und herausfordernd sein wird.

In unserem Podcast-Format „Überstunde“ - Motto: ein Gast, eine Stunde, ein Thema - diskutieren Marina Weisband und Michael Bröcker mit dem Kabarettisten Florian Schroeder über Meinung - ob jeder eine eigene haben sollte und wenn ja, wieviele?

Schroeder berichtet von der Schwierigkeit in polarisierter Zeit eine liberale Selbstverständlichkeit vorzunehmen: den Meinungswechsel.

Entweder man ist berechenbar und damit vorhersehbar - oder man gilt als Zeitgeist-Surfer und Opportunist.

Juli Zeh © dpa

Dazu passt: In der neuesten Ausgabe der „Zeit“ wirbt die Schriftstellerin Juli Zeh für eine Extraportion Toleranz: „Lasst uns die Gesundheit dieser Gesellschaft schützen, indem wir den AHA-Bestimmungen drei SOS-Regeln zur Seite stellen: Sensibilität im Umgang mit fremden Ängsten, Offenheit für abweichende Positionen, Sorgfalt beim Formulieren der eigenen Ansichten. Unsere Chancen, gut durch die Krise zu kommen, werden rapide steigen.“

Ich wünsche Ihnen einen beschwingten Start in das Wochenende.

Sigmar Gabriel © imago

Morgen früh melde ich mich wieder. Ich möchte Sie mit einem Morning Briefing Sonder-Podcast zur US-Wahl überraschen. Mein Gesprächspartner wird unser ehemaliger Außenminister sein: Sigmar Gabriel. In zwei Stunden sind wir im Studio verabredet. Ihre Fragen sind mir willkommen: g.steingart@mediapioneer.com

Es grüßt Sie auf das Herzlichste

Ihr

Pioneer Editor, Herausgeber The Pioneer
  1. , Pioneer Editor, Herausgeber The Pioneer

Abonnieren

Abonnieren Sie den Newsletter The Pioneer Briefing